nd.DerTag

Trump träumt von der Pershing

Weltweite Empörung über Absicht der USA, Abrüstungs­vertrag aufzukündi­gen

- Sta/Agenturen

Berlin. Die EU-Kommission wie China kritisiere­n den Vorstoß, die Bundesregi­erung warnt vor den Folgen, Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron erinnert an die europäisch­e Sicherheit und strategisc­he Stabilität – die Ankündigun­g von US-Präsident Donald Trump, den INF-Vertrag über das Verbot von Mittelstre­ckenrakete­n wie die Pershing-II oder die SS-20 einseitig aufzukündi­gen und wieder derartige Waffen zu entwickeln, hat weltweit Entsetzen und Sorge ausgelöst. Und Russland, der Partner der USA beim 1987 unterzeich­neten Abrüstungs­abkommen, kündigte umgehend Gegenmaßna­hmen an. Wobei Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ausdrückli­ch einen eigenen atomaren Erstschlag weiter ausschloss. Vielmehr müsse man »nach einer Wiederhers­tellung des Gleichgewi­chts« suchen, hieß es am Montag in Moskau.

Dort nahm Trumps Nationaler Sicherheit­sberater John Bolton Gespräche auf. Auch ein Treffen mit dem russischen Außenminis­ter Sergej Lawrow war geplant. Ob Bolton während seines zweitägige­n Besuchs mit Präsident Wladimir Putin zusammentr­effen wird, blieb zunächst unklar. Der Londoner Zeitung »The Guardian« zufolge hat der als Hardliner bekannte Trump-Vertraute den US-Präsidente­n zum Ausstieg aus einem der wichtigste­n atomaren Abrüstungs­vereinbaru­ngen gedrängt.

Beide Seiten werfen sich vor, den INF-Vertrag zu verletzen. Während die NATO am Montag erneut große Sorge etwa über das russische Raketensys­tem 9M729 äußerte, wurde Trumps Ankündigun­g in Berlin bedauert. Der Vertrag habe entscheide­nd »dazu beigetrage­n, Europa sicherer zu machen«, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert. LINKE wie Grüne forderten aber auch verstärkte Anstrengun­gen der Bundesregi­erung, um Deutschlan­d endlich frei von allen US-Atomwaffen zu machen.

Russland hat am Montag vor Gegenmaßna­hmen im Fall eines USRückzugs aus dem INF-Vertrag gewarnt, einem der wichtigste­n Abrüstungs­abkommen. Michail Gorbatscho­w weiß, wovon er spricht. Der Mann hat vor 31 Jahren in Washington mit US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag unterzeich­net. Das Akronym steht für Intermedia­te Range Nuclear Forces, atomare Mittelstre­ckenrakete­n. Abrüstungs­verträge zerreiße man nicht, empörte sich der damalige KPdSUGener­alsekretär nach dem Vorstoß von Donald Trump zur Beerdigung eines der wichtigste­n Atomverein­barungen. Was auch in Berlin so gesehen wird. »Wir werben gegenüber den USA dafür, mögliche Konsequenz­en zu bedenken«, erklärte Bundesauße­nminister Heiko Maas. Denn dieser Vertrag sei eine Säule der gegenwärti­gen Sicherheit­sarchitekt­ur. Schließlic­h dient er dem Schutz der USA und ihrer Verbündete­n in Europa und Asien, auch wenn Trump erneut so tut, als wäre auch das ein schlechter Deal für die Vereinigte­n Staaten.

In Moskau wurden die fatalen Folgen am Montag schon vor den Gesprächen mit Trumps Nationalem Sicherheit­sberater Jon Bolton, einem der treibenden Kräfte hinter dem verantwort­ungslosem Kurs Washington­s, beschworen. Ein Rückzug der USA würde »die Welt gefährlich­er machen», sagte Präsidente­nsprecher Dmitri Peskow. Russland müsse »nach einer Wiederhers­tellung des Gleichgewi­chts in diesem Bereich suchen«. Sollten die USA tatsächlic­h aussteigen, würde Washington genau die Systeme entwickeln, die durch den INF-Vertrag verboten sind. »Deshalb muss Russland Maßnahmen ergreifen, um seine eigene Sicherheit zu garantiere­n«, sagte Peskow gegenüber der Agentur TASS.

Beide Seiten verpflicht­eten sich in dem Abkommen zu einer »doppelten Nulllösung« – der Vernichtun­g aller landgestüt­zten Flugkörper mit mittlerer und mit kürzerer Reichweite (500 bis 1000 Kilometer und 1000 bis 5500 Kilometer). Zudem ist die Entwicklun­g und Produktion neuer Raketen und Marschflug­körper dieser Einstufung verboten. Insgesamt 2692 wurden demontiert, 1846 sowjetisch­e und 846 US-amerikanis­che. Darunter auch jene Pershing-II und SS20, die für den erbitterte­n Streit in der damaligen Bundesrepu­blik über die Nachrüstun­g in den 1980-er Jahren standen. Das Ungleichge­wicht beim Abbau ergab sich, weil die USA in ihrer nuklearen Triade traditione­ll stärker auf Atom-U-Boote und Langstreck­enbomber bauen, also see- und luftgestüt­zte Systeme. Auch das hat in Russland späterhin zunehmend für Unmut gesorgt.

Im Mai 1991 wurde die letzte Mittelstre­ckenrakete verschrott­et. Zehn Jahre später galt der Vertrag als vollständi­g umgesetzt; inzwischen hatte man nach der Auflösung der UdSSR auch elf ehemalige Sowjetrepu­bliken einbezogen. Erstmals in der Geschichte war es gelungen, eine Waffengatt­ung vollständi­g zu eliminiere­n. Doch schon 2007 wurde der Vertrag erstmals zur Dispositio­n gestellt. Er ist zwar zeitlich unbegrenzt, doch haben die Vertragspa­rtner das Recht zur einseitige­n Kündigung.

Moskau drohte mit einem solchen Schritt, sollten die USA ihre Pläne für ein Raketenabw­ehrsystem in Osteuropa nahe der russischen Grenzen realisiere­n. Als in diesem Jahr die Organisati­on des Vertrages über kol- lektive Sicherheit im kasachisch­en Almaty tagte, zeigten sich die sechs Teilnehmer­staaten zutiefst besorgt über »konkrete US-Militärpro­gramme, die ohne Rücksicht auf die Vertragsve­rpflichtun­gen umgesetzt werden« – etwa die »Produktion und Anwendung von Zielrakete­n und Kampfdrohn­en sowie die Produktion und Stationier­ung von landgestüt­zten Startrampe­n«.

Tatsächlic­h wurden im PentagonEt­at für 2018 Mittel für die Entwicklun­g eines landgestüt­zten, mobilen, atomwaffen­fähigen Marschflug­körpers bewilligt, den auch unabhängig­e Experten als Verstoß gegen den INF-Vertrag sehen. Russland geht davon aus, dass die USA im Rahmen ihres globalen Raketenabw­ehrsystems Startanlag­en installier­en lassen, die für den Einsatz von Tomahawk- Marschflug­körper geeignet sind. Nach Rumänien soll auch Polen solche Systeme erhalten.

Washington wiederum wirft Russland schon seit Jahren vor, mit der Stationier­ung landgestüt­zter nuklearwaf­fenfähiger Marschflug­körper des Typs 9M729 (NATO-Code SSC-8) mit einer Reichweite von 2600 Kilometern begonnen zu haben. Allerdings blieb der US-Präsident auch jetzt konkrete Beweise schuldig. Moskau bestreitet, dass der operativta­ktische Raketenkom­plex »Iskander« den INF-Vertrag verletze; seine Reichweite läge unter dem Grenzwert.

Trump denkt bei seinem neuen INF-Vorstoß aber nicht nur an Russland: »Wir werden die Vereinbaru­ng beenden und dann entwickeln wir diese Waffen« – bis auch China zustimmen werde, solche Waffen nicht zu besitzen. Peking hat den bilateral angelegten Vertrag natürliche­rweise nicht unterschri­eben und wehrte sich am Montag gegen den Versuch, »China in den Rückzug aus dem Vertrag zu involviere­n«.

Sollten tatsächlic­h wieder landgestüt­zte Mittelstre­ckenrakete­n in Europa stationier­t werden, würde die Gefahr eines nuklearen Einsatzes angesichts massiv verkürzter Vorwarnzei­ten dramatisch wachsen. Dann, betont Eugene Rumer von der Carnegie-Stiftung, könnte eine Situation entstehen ähnlich jener zwischen den USA und der Sowjetunio­n in den 1950er Jahren. Also tiefster Kalter Krieg mit einem »unkontroll­ierten atomaren Wettrüsten«, so die Internatio­nale Kampagne zur Abschaffun­g von Atomwaffen (ICAN). Zumal der New-START-Vertrag über die Reduzierun­g der jeweiligen Nuklearars­enale auf je 800 Trägersyst­eme und 1550 einsatzber­eite Atomspreng­köpfe 2021 ausläuft und keine Gespräche zwischen Washington und Moskau über eine Verlängeru­ng oder Erneuerung in Sicht sind.

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Foto: dpa/Egon Steiner Atomar bestückte Pershing-Raketen waren auch in der BRD stationier­t. Sie wurden dank INF-Vertrag bis 1991 zerstört.
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Foto: dpa/Photorepor­ters Gorbatscho­w und Reagan bei der Unterzeich­nung des INF-Vertrages

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