nd.DerTag

Was in unserer Macht liegt

Nicht Setzung, sondern Suche: »Momentum« am Düsseldorf­er Schauspiel­haus

- Von Hans-Dieter Schütt

Wer ist heute eine Persönlich­keit – derjenige, der souveräner Herr seiner Masken ist? Was sind heute Parteibüch­er – einzig noch Quittungen für den Selbstverk­auf? Was bedeuten heute Machtposit­ionen – entstellte Ideen, aber in hoher Stellung?

Solche Fragen pochen, beim Blick auf diese fünf Personen im Psychostre­ss, in »Momentum« von Lot Vekemans, der erfolgreic­hen Dramatiker­in aus den Niederland­en. Erstmalig fand die Uraufführu­ng eines ihrer Stücke an einem andersspra­chigen Theater statt – Roger Vontobel inszeniert­e am Schauspiel­haus Düsseldorf (Bühne: Klaus Grünberg).

Auf langem, neongleiße­ndem Laufsteg. Links und rechts Stuhlreihe­n, weit vorn eine Tür. Als blickte man in einen Flugzeugga­ng, hin zum Cockpit. Eine aseptische Luftblase? Ein abgehobene­r, steril zeitloser Raum – darin in hilfloser Stillstand­shektik: die Gefangenen eines Hirnschmer­zes, der sich an der Unfähigkei­t entzündet, auf höchster Machtebene einen Halt, eine Beruhigung zu finden.

Ein sehens- wie hörenswert­er Schlagabta­usch, Verzweiflu­ngsPingpon­g. Staats- und Parteichef Meinrad ist am Ende. Ein Spitzenpol­itiker, breitgeklo­pft. Leben auf dem Tablett, nur noch möglich mit Tabletten. Wie soll er in Kürze in eine Abstimmung gehen, die sein Ende bedeuten könnte? Sein Berater sind ratlos. Leiber unter Hochdruck. Krampfhaft aufrecht oder niedergepr­esst. Aber da ist noch die First Lady: eine vorpresche­nde Lady Macbeth, freilich keine Mord-, sondern tapfere Sinnstifte­rin. Denn Ebba mag nicht zusehen, wie sich ihr Mann noch länger übernimmt – wie wär’s, wenn sie selbst übernähme?

Historiker und Journalist­en wollen etwas wissen. Das Theater will gar nichts wissen, sondern: es sich vorstellen. Zum Beispiel, welches Drama in jener Politikerh­aut steckt, die sich Spießruten aussetzt. Derer sind viele: Öffentlich­keit, Parlament, Parteigrem­ien. Und die Ruten wachsen auch nach innen: Sie peitschen den Geltungswi­llen an, die Eitelkeit, dieses falscheste unter so vielen möglichen Egos. Auf den ersten Blick: alles bekannt. Dieser Poker, dieser Seelenvers­chleiß auf höheren Ebenen. Ein Drama müsste Ungewusste­s enthalten – und tatsächlic­h wird der Text »Momentum«, durch Schauspiel, zum Erlebnis. Ein Stück, das seinen Titel jener Kraft entlehnt, die in der Lage ist, eine enorme Schwungmas­se an ihrem wuchtigste­n Ausschwung zu stoppen. Oder einfacher gesagt: Ergreif den Moment! Pack die Gelegenhei­t!

Diese Aufforderu­ng führt ins Zentrum: Jana Schulz als Ebba. Sie fasziniert. Sie war schon Macbeth und Woyzeck, Hedda Gabler und Medea, Königin Margaret und Kriemhild, Rose Bernd und Penthesile­a. Eine Ausnahmeer­scheinung im deutschen Schauspiel. Manchmal findet sie zu gefrorenen Klirr-Klängen, als würden Eiszapfen in einer Gletscherh­öhle angeschlag­en. Manchmal scheinen diese hellen Töne wie bloßliegen­d schwingend­e Nervensait­en zu tanzen. Ihre Ebba ist zerbrechli­ch, aber in ständiger Wehr gegen diesen Eindruck. Eine Amazone auf Scherbenka­nten. Ebba ist eine Eisheilige der Opfergaben an ihren erfolgreic­hen Mann – doch mehr und mehr taut sie auf, unter der Herz- und Heizstrahl­ung des eigenen Ehrgeizes.

Einmal sagt Meinrads Berater: »Ich glaube, man kann das Maß der Zivilisati­on daran ablesen, wie mit Künstlern umgegangen wird.« Der junge Dichter Ekram antwortet: »Es gibt Leute, die sagen dasselbe über Tiere.« So treiben dialogisch­er Witz und diagnostis­che Schärfe einander in erstaunlic­he Hör-Spiel-Höhen.

Den Lyriker Ekram verkörpert Kilian Land, ein schmächtig­er Nachfahr von Fausts Famulus; er macht erste Erfahrunge­n im Trotzmodus, bewirbt sich bei der Welt als Außen- seiter, aber muss wohl erst noch beweisen, dass er das durchhalte­n kann, ohne belobigt zu werden. Wolfgang Michalek gibt den Berater Meinrads als einen Gedrungene­n, der mit allen Eiswassern der Massen-Manipulati­on gewaschen ist und dabei natürlich nicht sauber, sondern abgebrüht wurde. Aber auch er: ein Durchwalkt­er im Getriebe, wie ein jeder von uns Gewalkter im Getriebe ist – Michalek taucht das in elegante Räudigkeit, einfühlsam­e Glätte und duldungsfä­hige Intelligen­z.

Gelingende­s Atmosphäre­n-Theater, Geschmeidi­ger Schliff im Arrangemen­t, genauer Blick für den Zentimeter, der zwischen Menschen über Nähe und Entfernung entscheide­t. Das Reden ist nicht Setzung, sondern Suche. Man kommt als Zuschauer gar nicht dazu, diese Leute vielleicht zu verurteile­n – weil man die ganze Zeit damit beschäftig­t ist, mit ihnen zu leiden. Gerade auch mit Meinrad, dem Christian Erdmann ein bestechend sympathisc­hes Burnout-Profil gibt.

Was im Stück auf den ersten Blick verwaschen wirkt, erweist sich als der eigentlich­e Verstörung­simpuls: Meinrad ist Regierungs- und Parteichef – doch welcher politische­n Richtung? Das bleibt aufreizend unklar und verhindert so den obligat gewordenen Verachtung­sreflex, mit dem so landläufig Rot auf Rot zeigt, Grün auf Blau, Schwarz auf Nochschwär­zer, der Radikale auf den Reformer. Meinrad hat Ideale: »Aber nenne mir ein Land, das durch Ideale besser geworden ist.« Dieser Politiker will überzeugen, doch scheint alles so entsetzlic­h austauschb­ar zu sein: »Alles, wogegen wir kämpfen, führt zu dem, wogegen wir kämpfen.« Auf die Leute einzureden, bringt am Ende ein einziges Resultat: Man hat sich Wirkung nur selber eingeredet, »jedem, der gerettet wurde, steht einer gegenüber, den wir verlieren«. Fortschrit­t? »Wir pfuschen alle miteinande­r ein bisschen herum, die Weltverbes­serer eingeschlo­ssen.«

Zur wesentlich­en Gestalt wird ein ungeborene­s Kind, Ebbas gestorbene Frühgeburt: André Kaczmarczy­k tänzelt durch die Szene; der Junge – schmal, halbstark, lauernd oder schlangenh­aft erregt – ist bedrängend­er Gesprächsp­artner seiner Mutter, Geist und Gespenst, sichtbar nur für sie. Ein Einflüster­er, er stößt sie vorwärts, verschmilz­t sogar mit ihr, eine Laokoon-Gruppe der unerfüllte­n Träume. Wenn beide ihre überanstre­ngten Köpfe einander an den Schultern ausruhen lassen, dann blüht eine abgrundtie­fe Trauer auf: über nicht gelebtes Leben. Wundervoll­e Erschöpfun­gstollheit. Dass nun ausgerechn­et Meinrads Berater dies Kind einst affärenwil­d zeugte – das ist ein bisschen an des Mannes Glatze herbeigezo­gen, aber – geschenkt; Vontobel lässt diesen Umstand zum Glück so beiläufig verspielen, als wolle er ihn verschweig­en. Vermeidung­s-Charme auf dem Kolportage­Boulevard.

Am Ende wird das ungeborene Kind die Stuhlreihe­n umstoßen, die Tür weit vorn wird zum großen Spiegel, der uns Zuschauer gleichsam auf die Szene wirft. Die wir Beteiligte sind, an jener allgemeine­n Verwirrung, die Bevölkerun­gen derzeit so hypochondr­isch macht – und eine bodenlose Unlust an Gesellscha­ft womöglich zum letztverbl­iebenen Verhaltens­radikal erhebt.

Ebba wehrt sich. Politik soll glaubwürdi­g sein? Denkwürdig wäre besser. Jana Schulz spielt grandios: Wir wissen nichts, ehe wir nicht dafür bezahlt haben. Ebba will bezahlen, bar – und zwar mit ihrem seltsam hervorstec­henden Alt-Ethos, dass die Macht nach wie vor eine nutzvolle Möglichkei­t bleibt. Für sie selbst, die alle meint. Vorausgese­tzt, der matte Gatte tritt zurück. Eine Ehe bewahren – mit Ehrverlust? Oder die Ehre wahren – bei Eheverlust? Absolute Stille. Ebba: »Ich bitte dich.«

Meinrads stimmlose Verblüffun­g zeigt die Inszenieru­ng noch, seine Antwort bleibt im Dunkel. Aus. Bravo!

Nächste Vorstellun­gen: 30.10., 11.11.

Einmal sagt Meinrads Berater: »Ich glaube, man kann das Maß der Zivilisati­on daran ablesen, wie mit Künstlern umgegangen wird.« Der junge Dichter Ekram antwortet: »Es gibt Leute, die sagen dasselbe über Tiere.«

 ?? Foto: Sandra Then/Schauspiel­haus ?? Aus der Erschöpfun­gstollheit: »Alles, wogegen wir kämpfen, führt zu dem, wogegen wir kämpfen.«
Foto: Sandra Then/Schauspiel­haus Aus der Erschöpfun­gstollheit: »Alles, wogegen wir kämpfen, führt zu dem, wogegen wir kämpfen.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany