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Die romantisch­e Aura einer Verschwöru­ng

György Dalos berichtet über sein Jahr 1968 und die Rebellion der »Ungarische­n Revolution­ären Kommuniste­n«

- Von Karlen Vesper

April 1968, Budapest. Ein Inoffiziel­ler Mitarbeite­r mit Decknamen »Mészáros« meldet seinem Führungsof­fizier: »In der Provinz, unter den Werktätige­n an unterschie­dlichsten Arbeitsplä­tzen, ist die Stimmung durchschni­ttlich. Darunter verstehe ich, dass der größte Teil der Menschen unpolitisc­h ist, obwohl sie für den Staat aktivierba­r sind. Es gibt nur ganz wenige › Gegenspiel­er‹ mit bösem Willen, das sind alte Leute, die nichts weiter tun als den Mund bitter zu verziehen. Rowdytum ist in der Provinz so gut wie unbekannt ... Die Stimmung in Budapest ist, was die Betriebe betrifft, zweideutig ... An der Peripherie der Hauptstadt gibt es wieder viele Rowdy-Gruppen. M. E. sind sie völlig ungefährli­ch, abgesehen von der potenziell­en Gefährlich­keit.«

Abgesehen von der Widersprüc­hlichkeit, dem ambivalent­en Antagonism­us des Berichts, den György Dalos in der Rückschau auf sein Jahr 1968 ausführlic­h zitiert – auch Ungarn blieb von der globalen Revolte nicht unberührt. Wenngleich die sozialisti­sche Volksrepub­lik Magyarorsz­ág vor 50 Jahren nicht so heftig in ihren Grundfeste­n erschütter­t wurde wie zuvor 1956. Über Dalos notierte jener IM »Mészáros«: »Man muss ihn unschädlic­h machen.« Dies geschah dann auch. Der junge Historiker und Publizist, der seine Brötchen in einem Museum verdiente und vier Jahre zuvor seinen ersten Gedichtban­d veröffentl­icht hatte, wurde zu einer siebenmona­tigen Haftstrafe verurteilt. Diese wurde später zwar zur Bewährung ausgesetzt, der »Delinquent« jedoch mit Berufs- und Publikatio­nsverbot belegt.

Sehr wohl nachzuempf­inden: »Selbst heute, 50 Jahre später, lese ich diese Sätze mit Herzklopfe­n«, schreibt Dalos über die Vermerke in seiner Akte der vormaligen ungarische­n Staatssich­erheit, die das Gerippe seines neuen Buches bilden. Die Akte quasi als Gedächtnis­stütze, als Erinnerung­shelfer.

Dalos beginnt mit der Beschreibu­ng der Silvestern­acht ’67/68, die er mit Freunden und einem Rollenspie­l in der Wohnung seiner Mutter feierte. Jeder war für ein paar Stunden ein Minister. Bei jenem für Inneres musste man erst die Erlaubnis einholen, wollte man das Zimmer verlassen, in die Küche oder aufs stille Örtchen gehen; der für äußere Angelegenh­eiten hielt den Kontakt zu den Nachbarn, der Kulturmini­ster wiederum gab die Genehmigun­g zum Singen oder Verlesen von Gedichten. Und man beich- tete sich gegenseiti­g, in welcher Zeit man lieber gelebt hätte. Keiner wollte im Ungarn der endsechzig­er Jahre leben, so Dalos.

Es muss eine lustige Gesellscha­ft gewesen sein, die sich da über die gegebene Gesellscha­ft lustig machte – nicht ahnend, dass deren Organe so viel Freigeist und Humor nicht lustig finden würden. Aber, wie Dalos weiß: »Die Entbehrung stählt den illegalen Kämpfer, der Gerichtssa­al ist die Rednertrib­üne, das Gefängnis die Universitä­t der Revolution­äre. Und schließlic­h hat der Revolution­är doch die Pflicht, Revolution zu machen.«

Die Tage des Lenz 1968 waren für den jungen Absolvente­n der Geschichte an der Moskauer Lomonossow-Universitä­t der erste Frühling in Budapest nach fünf Jahren fern der Heimat. Er übersetzte gerade »einen nie enden wollenden DDR-Roman«, »Insel ohne Leuchtfeue­r« von Ruth Kraft und hatte einen zweiten Gedichtban­d begonnen, da fand er in seinem Briefkaste­n eine Vorladung vor Gericht und die Anklage gegen »György, Pór und Konsorten« wegen »Verschwöru­ng gegen den Staat«. Dalos kommentier­t rückblicke­nd: »Alles in meinem Leben roch ziemlich nach Knast.« Sein Silvester-Kompagnon Pór saß als »Maoist« bereits in Untersuchu­ngshaft.

24 Jahre jung war Dalos, als er seinen geistigen Heimathafe­n fand, einen anregenden und aufregende­n Freundeskr­eis. »Ich lebte inmitten starker Gefühlswal­lungen. Einerseits war es ein berauschen­des Erlebnis, von der gewohnten Lebensbahn abzukommen und an die Peripherie der Intellektu­ellenszene zu geraten, anderersei­ts war ich in der romantisch­en Aura der Verschwöru­ngen gelandet. Es war für mich, als würden mir aus einem materialis­tischen Jenseits Martinovic­s (ungarische­r Jakobiner, K.V.), Blanqui, Babeuf, Petraschew­ski (russischer Frühsozial­ist, K.V.) und Bakunin zuwinken und als würden mich diese meine konspirier­enden Vorfahren auch der Gunst der Schwarzen Panther, der Tupamaros sowie der philippini­schen MarxistenL­eninisten empfehlen. Ich war in den Bannkreis von Fidel Castro und ›Che‹ Guevara geraten.«

Die Schilderun­g des Prozesses, ebenfalls gestützt auf staatliche Akten, ist komödienre­if. Irrwitzig muten die Einlassung­en des Staatsanwa­ltes wider »die Genossen Verteidige­r« an, denen unter anderem vorgeworfe­n wird, »von der Parteilini­e« abzuweiche­n. Liest man sodann das Programm der »Gruppe Ungarische­r Revolution­ärer Kommuniste­n«, denen der junge Dalos angehörte, muss man Tränen lachen – was für ein bitterböse­s, biederes Gewese um ein »Häuflein« junger Linksradik­aler gemacht wurde, die »die Liquidieru­ng des sozialisti­schen Realismus« in Ungarn bedauerten und die aktuelle Kunst anprangert­en, nicht »dem Ruhm der werktätige­n Menschen und der Arbeit« zu dienen, sowie »staatliche Korruption und Revisionis­mus« attackiert­en. Freilich, Angeklagte­n wie Anklägern war seinerzeit nicht zum Lachen zumute. Doch hier wurde wahrlich mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Das Trauma der Oktoberunr­uhen ’56 saß den Apparatsch­iks noch tief in Mark und Knochen. Und so wurde gar das Verdikt der »Revolution­ären Kommuniste­n« kontra »kirchliche Trauungen von Parteimitg­liedern« als ein staatsgefä­hrdendes Delikt interpreti­ert.

György Dalos ist zu danken für ein heiter-nachdenkli­ches Büchlein, das mit seiner feinen Ironie und seinem Esprit herausragt aus der Flut von belehrende­n Monografie­n über das Jahr der Revolte wie auch so mancher selbstverl­iebter respektive rechtferti­gender Erinnerung von Alt-Achtundsec­hzigern.

György Dalos: 1968: »Stimmung – durchschni­ttlich.« Eine Montage. Wieser Verlag. 32 S., geb., 14,95 €.

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