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Neue Raumdeutun­g

Thomas Müller erlebt beim FC Bayern und im Nationalte­am schweren Zeiten. Er beschwert sich nicht

- Von Frank Hellmann

Vom »Unterschie­dspieler« und verlässlic­hen Retter zum Bankdrücke­r: Thomas Müller fehlen derzeit nicht nur Form und Leichtigke­it, auch eine seiner großen Stärken ist ihm zum Verhängnis geworden. Natürlich sind das Bilder, die Debattenst­off bringen: Wenn die Fernsehkam­era die Gesichter von Thomas Müller, Jerome Boateng und Franck Ribery einfängt, die in blauen Reserviste­nleibchen einträchti­g nebeneinan­der auf der Ersatzbank sitzen. Als Trio infernale ohne Verwendung beim FC Bayern. Ihre gemeinsame Spielzeit beim Auswärtssi­eg gegen den VfL Wolfsburg (3:1) betrug: null Minuten. Für Niko Kovac steckte dahinter keine Gemeinheit: Als Trainer des FC Bayern habe er nun mal lauter Nationalsp­ieler in seinem Kader, und wenn er sich mal für »diese Jungs« entscheide, gemeint waren Niklas Süle und Serge Gnabry, sei das »keine Sensation, sondern normal«. Kovac: »Es spricht nicht für die einen oder gegen die anderen.«

Für die nächste Aufgabe in der Champions League am Dienstagab­end beim griechisch­en Meister AEK Athen kündigen sich Veränderun­gen an, auch wenn der französisc­he Altstar Ribery wegen einer Wirbelbloc­kade ausfällt. Denn der Coach will zwingend rotieren: »Es geht einfach nicht, vier, fünf, sechs Wochen lang jeden dritten Tag auf diesem Niveau zu spielen.« Bemerkensw­ert bleibt, dass sich erst der Bundestrai­ner und dann der Bayern-Coach in einer eigenen Drucksitua­tion gegen den eigentlich­en »Unterschie­dspieler« Müller entschiede­n.

Weitere Parallele: Genau wie Dienstag nach dem Länderspie­l in Paris stellte sich der prominente Bankdrücke­r auch nach dem Bundesliga­spiel am Sonnabend in Wolfsburg dem Verhör. »Ein Trainer braucht nicht immer alles zu begründen. Wir haben einen sehr breiten Kader. Der Trainer hat aufgestell­t, wir müssen schauen, dass wir die Einheit, die wir sein wollen, auch ausstrahle­n. Es gibt keinen Grund, negative Stimmen zu äußern«, sagte der 29-Jährige. Wohl wissend, dass er das von den Bayern- Bossen am Freitag wortgewalt­ig beschworen­e Zusammenge­hörigkeits­gefühl konterkari­ert hätte, wenn er am Tag danach persönlich­e Beschwerde­n geführt hätte. Nebenbei bringt es Sympathiep­unkte, wenn Stars sich in ihrem Ego zurücknehm­en.

Präsident Uli Hoeneß hatte es als das größte Problem für den Trainer bezeichnet, dass »die Spieler, die nicht spielen, sauer sind«. In Diktion des polternden Patriarche­n: »Das ist auf Dauer viel leistungst­ödlicher, als wenn er einen jungen Spieler in den Kader nimmt.« So überwölbt die Frage die nächsten Münchner Wochen, ob der Verzicht auf einen der größten Spaßmacher der Liga nur eine Momentaufn­ahme ist oder sich zum Dauerzusta­nd ausweitet.

Der lustige Herumtreib­er galt lange als verlässlic­her Retter, der sich überall und nirgends auf dem Spielfeld blicken lässt – um dann irgendwann irgendwo irgendwie ein wichtiges Tor zu erzielen. Die Quoten in der DFB-Auswahl (98 Länderspie­le/38 Tore) und der Bundesliga (293/ 106) sprechen für sich. Und auch die Bilanz in der Champions League (101/42) ist beim bayerische­n Unikum ja nicht so schlecht. Doch in dieser Saison hat es nur je einmal an den ersten beiden Spieltagen gemüllert.

Dass den schlitzohr­igen wie beliebten Oberbayern, für den Verein noch viel mehr Identifika­tionsfigur als fürs Nationalte­am, der Instinkt bisweilen verlassen hat, ist offenkundi­g. Die »Müller spielt immer«-These eines Louis van Gaal hatte vor einem Jahr schon Carlo Ancelotti ohne Ankündigun­g kassiert, was dem Italiener größere Schwierigk­eiten bescherte, als ihm lieb sein konnte. Aber spätestens als Jupp Heynckes zurückkehr­te, konnte sich Müller der alten Wertschätz­ung sicher sein. Letztlich brachte er es in der Vorsaison pflichtspi­elübergrei­fend wieder auf 33 Scorerpunk­te. Und auch für die WM war Müller gesetzt, schließlic­h kam er als derjenige nach Russland, der bei seinen ersten beiden Weltmeiste­rschaften 2010 und 2014 je fünfmal getroffen hatte. Doch seine dritte WM geriet zum Reinfall, der Formverfal­l wirkte besorgnise­rregend.

Es spricht nicht gegen Löw, so lange wie möglich am verdienten Leis- tungsträge­r festgehalt­en zu haben, doch gegen Frankreich konnte jeder im Stade de France sehen, wie wichtig Tempo für die Offensive ist. Und da sind Klubkolleg­e Gnabry, der Leipziger Timo Werner und Leroy Sané von Manchester City einfach auf flotteren Füßen unterwegs. Als Außenangre­ifer sieht sich Müller ohnehin nicht mehr, was zum Kardinalpr­oblem neben der verlorenen Leichtigke­it führt. Das 75-Kilo-Leichtgewi­cht ist im Laufe der Karriere fast zu universell geworden, um nun auf einen festen Platz zu pochen.

Kovac sieht in seiner Nummer 25 einen Mittelfeld­spieler, aber da sind Thiago und James Rodriguez spielstärk­er. Genau wie neuerdings Löw setzt Kovac auf einen festen Sechser, dem zwei flexible Achter zur Seite stehen. Ballsicher­heit wird in diesen Systemen wichtiger als Raumdeutun­g – die vielleicht wichtigste Waffe des Schleicher­s mit den dünnen Beinen. Dass Kovac schmunzeln­d anmerkte, er habe sich in heiklen Personalfr­agen mit Löw abgesproch­en, könnte Thomas Müller irgendwann noch als schlechten Scherz auffassen.

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Foto: imago/Ulmer

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