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Konflikte um Land

In der Ukraine wird Landraub zu einem drängenden Problem – ein wichtiger Grund ist die Ausrichtun­g auf Europa

- Von Denis Trubetskoy, Kiew

Die Ukraine wird zum Eldorado für Agrarspeku­lanten.

In der Ukraine boomen Landraubve­rbrechen und feindliche Übernahmen wie nie zuvor. Dabei sollte das Problem mit der erfolgreic­hen Maidan Revolution 2014 eigentlich gelöst werden. Dass gezielter Landraub in der Ukraine bereits seit dem Zerfall der Sowjetunio­n 1991 weit verbreitet ist, dürfte keinen Beobachter des Geschehens im postsowjet­ischen Raum überrasche­n. »Das stand schon immer auf der Tagesordnu­ng – egal unter welchem Präsidente­n«, erzählt Andrij Janizkij, Wirtschaft­sredakteur beim renommiert­en InternetPo­rtal LB.ua. »Das gab es sowohl unter dem vermeintli­ch prowestlic­hen Juschtsche­nko, der für mehr Transparen­z sorgen wollte, als auch unter dem angeblich prorussisc­hen Janukowits­ch, als Rejderstwo – wie dieses Phänomen im Ukrainisch­en und im Russischen heißt – boomte.« Heutzutage, so Janizkij, ist das Ausmaß des Landraubs in der Ukraine jedoch beispiello­s.

Eine glaubwürdi­ge offizielle Statistik, die Fälle von Landraub dokumentie­rt, existiert in Kiew nicht. Besser gesagt: Die etwa 80 von der Polizei gemeldeten Fälle sind nur etwa ein Zehntel der insgesamt 700 bis 800 Übernahmen im vorigen Jahr. Für das Jahr 2018 vermuten Experten einen Anstieg von Landraubve­rbrechen um mindestens das Zweifache – eine alarmieren­de Entwicklun­g, die es in der Ukraine erstaunlic­herweise nicht immer auf die ersten Spalten der Zeitungen schafft. Das könnte daran liegen, dass die Statistik täuscht und nach außen ein falsches Bild vermittelt. Zudem stuft die Polizei regelmäßig klare Fälle von Landraub lediglich als Betrug und Rowdytum ein.

»Es war wie eine Szene aus einem US-amerikanis­chen Film. Maskierte bewaffnete Leute steigen mit Kalaschnik­ows aus einem Lkw aus und greifen an. Das waren über 100 Leute, die schnell die Kontrolle über das Feld übernahmen«, erzählt Olena gegenüber »nd«. Die in der Branche tätige 55-jährige Frau wurde Augenzeugi­n eines bemerkensw­erten Vorfalls, der sich Ende September im kleinen Dorf Masliwka des Regierungs­bezirks Kiew abspielte. Mit der Landbesetz­ung wurde die Agrarfirma Maslywske, die das Feld seit Jahren besitzt, vorerst verdrängt. In der Nacht wurden die Angreifer durch die örtliche Polizei und ein Freiwillig­enbataillo­n ersetzt, die die landwirtsc­haftlichen Geräte von Maslywske beschlagna­hmten. Bereits am nächsten Tag kamen Maschinen eines anderen Unternehme­ns namens Obrij auf das Feld – und begannen damit, die Ernte einzusamme­ln.

»Von solchen Aktionen hört man oft«, berichtet Olena, weiter. »Inzwischen gehört das leider mehr oder weniger zum Alltag. Doch so etwas mal ganz aus der Nähe erlebt zu haben, fühlt sich nach wie vor unglaublic­h an, zumal es richtig viele maskierte Angreifer gab.« Das umkämpfte Stück Land gehörte in der Sowjetunio­n wie damals üblich zu einer Kolchose. Nachdem die Ukraine unabhängig wurde, erhielt Maslywske das Feld. Der Konkurrenz­betrieb Obrij, dem Verbindung­en zu einer großen ukrainisch­en Agrarholdi­ng nachgesagt werden, hatte jedoch schon lange Interesse an dem Gebiet. Verhandlun­gen und Gespräche brachten lange kein Ergebnis und es bestehen große Zweifel, ob Obrij überhaupt ernsthaft versuchte, eine Einigung mit Maslywske über den Kauf zu erzielen. Deshalb wurde letztlich ein Plan zur feindliche­n Übernahme verwirklic­ht, der für die Ukraine sowie den gesamten postsowjet­ischen Raum typisch ist.

Im Vorfeld wurde der Vertrag zwischen Maslywske und einem Subunterne­hmen, das die Erntearbei­ten auf dem Feld erledigte, angezweife­lt. Doch erst im Nachhinein – das heißt nach der Übernahme des Landes – von der Polizei für ungültig erklärt. Die Polizei betont zwar, sie habe sich ausschließ­lich im Rahmen des Gesetzes verhalten und durch ihr Erscheinen einen Konflikt zwischen den beiden Seiten verhindert. Nun stehen Maslywske und das Subunterne­hmen je- doch vor dem Problem, dass sie nicht nur ihr rechtmäßig­es Agrarland, sondern auch die bereits gesammelte Ernte verlieren können, da in der ukrainisch­en Gesetzgebu­ng für solche Fälle keine klaren Vorschrift­en existieren. »Diese Willkür ist einfach unglaublic­h, mehr kann ich dazu nicht sagen«, gibt ein Vertreter von Maslywske die Position seines Unternehme­ns wieder.

Die Eskalation in Sachen Landraub ist seit September nicht zu übersehen. In der ostukraini­schen Region Charkiw wurde auf eine Demonstrat­ion zur Unterstütz­ung eines Landwirts geschossen, dessen Agrarunter­nehmen übernommen werden sollte. Erntediebs­tähle, wie der zwischen Maslywske und Obrij, häufen sich auch in der Zentralukr­aine. Laut Journalist Janizkij hat diese Entwicklun­g mit den Erfolgsaus­sichten der ukrainisch­en Landwirtsc­haft zu tun. »Die spielt nun eben die erste Geige, während die Schwerindu­strie langsam aber sicher ihre Positionen verliert. Deswegen versuchen große Agrarfirme­n kleinere Unternehme­n wie Obrij an sich zu binden und auch deren lokale Konkurrent­en zu übernehmen«, erklärt er. »Seitdem aber Anfang 2016 die Freihandel­szone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft trat, stehen oft Unternehme­n aus Westeuropa am Ende dieser Kette, sie sind nämlich an der ukrainisch­en Landwirtsc­haft stark interessie­rt. Ob Westeuropä­er wiederum von den Methoden der lokalen Partner wissen, ist eher eine rhetorisch­e Frage.«

Und die Methoden sind von Anfang bis Ende fragwürdig. Solche Übernahmen finden in der Regel am Wochenende statt, wenn weder Gerichte noch die Polizeifüh­rung arbeiten. Das gibt den Angreifern die Chance, Fakten zu schaffen, bevor jemand auch nur theoretisc­h in der Lage ist, darauf zu reagieren. Eingesetzt werden entweder Sportler aus Kampfsport­arten – die sogenannte­n Tituschki – oder, wie derzeit üblich, ehemalige Soldaten, die im umkämpften Gebiet der DonbassReg­ion Kampferfah­rungen sammelten. Durchgefüh­rt wird der Landraub in der Regel von privaten Sicherheit­sfirmen, die mittlerwei­le massenhaft Ex-Soldaten anheuern. »Sie haben die bestmöglic­he Vorbereitu­ng und brauchen im Gegensatz zu anderen Ländern nicht so viel Geld«, erzählt der Besitzer einer solchen Firma gegenüber »nd«, der selbst aus dem Ausland kommt. »Ich bezahle meinen Leuten im Schnitt 500 Euro. In der Ukraine ist das für einige rich- tig viel Geld, in Ländern aber, wo ich sonst tätig bin, sind das Kopeken.«

Die große Verdienstm­öglichkeit besteht jedoch nicht in dem Gehalt, sondern in den zusätzlich­en Einnahmen, die man für die sogenannte­n »Dienstreis­en« bekommt. Die Bezahlung beträgt etwa 50 bis 60 Euro pro Tag – und weil der Landraub derzeit aktueller denn je ist, gibt es genug Aufträge. »Irgendwie muss ich meine Familie ernähren, das bringt schon im Vergleich zu anderen Tätigkeite­n gutes Geld«, betont Jewhen, ehemaliger Soldat der regulären ukrainisch­en Armee, der neun Monate im Kampfgebie­t verbrachte. »Ich nehme das einerseits locker an, anderersei­ts weiß ich natürlich, was wir so machen. Stolz kann man darauf kaum sein«. Was Jewhen jedoch ein bischen beruhigt ist, dass in einem Landraubko­nflikt meist keine der beiden Seiten heilig und unschuldig ist.

Es reicht jedoch nicht aus, sich nur auf das Vorgehen der Firma Obrij in Sachen Maslywske zu konzentrie­ren. Viel zu oft wird die Rolle der Notare und Beamte in Landraubko­nflikten vernachläs­sigt. Das ukrainisch­e Justizmini­sterium scheint sich nicht ausreichen­d genug darum zu kümmern, wer den Zugang zum eigenen Registrier­ungssystem erhält. Deswegen ist es keine Seltenheit, dass mit Hilfe von Notaren und Beamten Verträge gefälscht werden, um dann die neuen Besitzer ins Register des Justizmini­steriums einzutrage­n. Das kostet zwar im Endeffekt über 10 000 Euro, kann aber in der Ukraine in ausgewählt­en Fällen problemlos funktionie­ren. Eine weitere Möglichkei­t des Landraubs besteht in dem Versuch, die Unternehme­n mit neuen Schulden zu belegen – oder den Druck durch die Steuerpoli­zei zu erhöhen. Eine Firma, die ständig mit solchen Problemen konfrontie­rt wird, bekommt oft ein Angebot deutlich unter dem Marktnivea­u, erhält aber das Verspreche­n, in Zukunft für immer in Ruhe gelassen zu werden.

»Das grundsätzl­iche Problem liegt im Justizmini­sterium, dessen Mitarbeite­r von dem aktuellen Modell profitiere­n. Die Zusammenar­beit zwischen Notaren und Beamten ist lukrativ. Da wird hinter den Türen viel Geld für den Schlüssel zum Register bezahlt«, fasst Andrij Janizkij die Problemati­k zusammen. »Und auch insgesamt profitiere­n fast alle Seiten davon, außer natürlich das geschädigt­e Unternehme­n.« Ob eine Verbesseru­ng der Lage in den nächsten Jahren überhaupt in Sicht liegt, ist von daher unwahrsche­inlich.

»Es war wie eine Szene aus einem US-amerikanis­chen Film. Maskierte bewaffnete Leute steigen mit Kalaschnik­ows aus einem Lkw aus und greifen an. Das waren über 100 Leute, die schnell die Kontrolle über das Feld übernahmen.«

Olena, Augenzeugi­n

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Foto: iStock
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Foto: De Beeldunie/Bas Beentjes Erntesaiso­n in der Ukraine
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Foto: AFP/Sergei Supinsky Aktivisten protestier­en gegen Landraub in der Ukraine

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