Tokio und Peking vor Zeitenwende?
Erstmals seit 2011 besucht ein japanischer Premier die Volksrepublik China
Auch wenn die Bevölkerungen der beiden Länder Vorurteile pflegen, die Politik der USA zwingt China und Japan zu einer Annäherung. Erstmals seit Dezember 2011 besucht von Donnerstag an wieder ein japanischer Ministerpräsident die Volksrepublik und möchte die Be- ziehungen auf eine »neue Stufe« anheben. Shinzo Abe trifft bis Samstag alle Spitzenpolitiker Chinas, offizieller Anlass ist der 40. Jahrestag der Unterzeichnung des bilateralen »Vertrages über Frieden und Freundschaft«, der am 23. Oktober 1978 beim Staatsbesuchs Deng Xiaopings in Kraft trat.
Für Peking spielt aktuell politisch und symbolisch aber eine noch größere Rolle, dass nur zwei Monate später mit dem 3. Plenum des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas am 22. Dezember 1978 die Reform- und Öffnungspolitik gestartet wurde. Seither hat sich Grundlegendes verändert – das Pendel im politischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Kräfteverhältnis schlägt heutzutage deutlich zugunsten Chinas aus.
Ausdruck dessen ist auch die Ankündigung Tokios in dieser Woche, die offizielle Entwicklungszusammenarbeit mit China einzustellen. In den Vergangenen 40 Jahren flossen mit ihr 3,65 Billionen Yen (28,5 Milliarden Euro) aus Japan nach China. Aus Beamtenkreisen in Japans Hauptstadt heißt es, die Wirtschaftshilfe habe ihre Rolle bei der Umwandlung der chinesischen Wirtschaft »erfüllt«.
Laut einer Umfrage schätzen derzeit eine Mehrheit der Chinesen die Beziehungen zu Japan als auf einem guten Weg befindlich ein. Trotzdem, über 86 Prozent der befragten Japaner haben hingegen einen »unvorteilhaften« Eindruck von China, fast 80 Prozent der Chinesen wiederum sehen Japan als eine militärische Bedrohung für ihr Land. Vorbehalte beiderseits also, die historische und aktuelle machtpolitische Rivalitäten in der Bevölkerungsmeinung wider- spiegeln. Der Japan-Besuch von Ministerpräsident Li Keqiang beendete im Mai 2018 eine achtjährige Funkstille, nach der Begegnung Xi Jinpings mit Abe beim »Far Eastern Economic Forum« in russischen Wladiwostok im September folgt nun ein weiteres Treffen auf höchster Ebene.
Kern allen Miteinanders bleiben die Wirtschaftsbeziehungen. Japan ist für China derzeit der viertgrößte Handelspartner nach den USA, der EU und
»Wir wollen nicht, dass die Reibereien zwischen den USA und China dem internationalen System Schaden zufügen.«
Japanischer Regierungsbeamter
den ASEAN-Staaten, während China für Japan die Nummer eins ist mit einem Austauschvolumen von 302,99 Milliarden US-Dollar in 2017. Zum Vergleich, Japans Handel mit den USA belief sich im selben Jahr auf 204 Milliarden Dollar bei einem Überschuss zugunsten Japans von 68 Milliarden.
Inhaltlich werden sich beide Seiten beim Besuch unter anderem in Bereichen der Finanzierung und von Forschung und Entwicklung der Elektromobilität näher kommen. Ein riesiges Potenzial sehen Peking und Tokio im Ausbau von Drei-Seiten-Kooperationen zwischen China, Japan und Drittländern. Im Mittelpunkt werden hier vor allem ASEAN-Länder stehen, ein erster Partner könnte mit dem Ausbau großformatiger Inf- rastrukturprojekte Thailand werden. Allerdings stellt sich die Frage, wie politisch eigenständig Japan sein Verhältnis zu China zu gestalten vermag. Denn die zerstörerische Administration von US-Präsident Donald Trump zielt darauf, es nicht zuzulassen, dass Washingtons wichtigster asiatischer Verbündeter seine Beziehungen zu China verbessert. China soll nach Möglichkeit ökonomisch isoliert werden. In Japan gibt man sich derweil zurückhaltend. Ein Regierungsbeamter ließ sich anonym bei »Kyodo news« zitieren, dass Tokio nicht wolle, »dass die Reibereien zwischen den USA und China dem internationalen System Schaden zufügen.«
Japan steht also an einem Scheideweg. Denn Peking ist es seit der Jahrtausendwende gelungen, ein Beziehungsgeflecht von friedenspolitischen, ökonomischen und sozialen Kooperationen aufzubauen, bei denen es mitgestaltend wirkt, wie im China – ASEAN – Freihandelsabkommen von 2010. Zugleich gewinnen vor allem die Shanghai Cooperation Organisation seit 2001 und die geopolitisch herausragende Neue Seidenstraße Initiative seit 2013 an Gewicht. Und beim erwähnten »Far Eastern Economic Forum« geht es um die forcierte Entwicklung der riesigen russischen Fernostregion wie auch der Nordosten Chinas gemeinsam mit Japan, Südkorea und – in einigen Monaten weiß man mehr – die Beteiligung Nordkoreas. Japan muss nun klären, wie es sich in diese komplexen Entwicklungen einbringt, sich aus der Zwangsjacke Trumps und dem westlichen und eigenen Überlegenheitsdünkel lösen kann, um geopolitisch neue Kräfteverhältnisse mit zu gestalten.