Süßer Trost
Die Essbiografie als Spiegel der Lebensgeschichte kann Traumata erklären, aber auch gute Erinnerungen wecken
Traumatische Erfahrungen können das Essverhalten nachhaltig prägen. Entsteht chronischer Stress, sorgen Nervenbotenstoffe mit für dauernden zu großen Hunger. Wie sich das Essverhalten eines Menschen entwickelt, hängt nicht nur davon ab, in welche Kultur er hineingeboren wird, sondern auch davon, welche Ereignisse ihn im Laufe seiner Lebensgeschichte stark beeinflussen. Die Essbiografie eines Menschen umfasst mehr als die Lieblingsspeisen oder besonders häufig gekochte Gerichte im Laufe von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Sie wird oft durch die Gewohnheiten im Elternhaus geprägt. Der Mangel der Nachkriegszeit oder der Überfluss der Konsumgesellschaft wirken sich auf den Umgang mit Nahrung aus. Die gute Butter, das herrliche Stück Speck, die süßen Malzbonbons – all das erscheint einem Menschen, der Hungersnöte überlebt hat, als besonders wertvoll.
In Jack Londons Meistererzählung »Die Liebe zum Leben« ist für jeden sofort nachvollziehbar, wie ein Goldgräber nach wochenlang erlittenem Hunger auf dem Weg durch die karge Tundra nach seiner Rettung Schiffszwieback hortet, bei jeder Mahlzeit dreifache Portionen verzehrt und innerhalb kürzester Zeit eine massive Fettsucht entwickelt.
Oft sind derartige Zusammenhänge bei Menschen, die Essen übermäßig verschlingen, nicht auf Anhieb zu erkennen. Als die heute 50-jährige Annegret G. mit acht Jahren beinahe zu ertrinken drohte, begann die Leidensgeschichte der stark adipösen Frau: Ein großer Junge tauchte das achtjährige Mädchen im Ferienlager an der See mehrfach unter Wasser. Immer wieder schoss das Mädchen prustend und nach Luft ringend an die Wasseroberfläche. Wieder wurde ihr Kopf untergetaucht. Endlich bemerkten die Betreuer den stillen Kampf des Mädchens. Eine kurze Aussprache mit dem Jungen folgte. Die Gefühle von Angst, Bedrohung, Wut, Verzweiflung und Panik, unter denen das Mädchen litt, blieben unbeachtet.
Bis dahin sehr dünn und fast untergewichtig, kaufte sich Annegret für die verbleibende Zeit im Ferienlager von ihrem Taschengeld jeden Tag Schokoladenplätzchen und andere süße Knabbereien, um sich am Abend heimlich damit zu trösten und zu beruhigen. Das Erlebnis selbst verdrängte sie. Vor jeder Reise traten jedoch Schlafstörungen auf, vor jeder Veränderung ihres Alltags greift sie bis heute auf Süßigkeiten als Beruhigungsmittel zurück.
Ein anderes Beispiel ist Karsten V., früher Schuldirektor einer Polytechnischen Oberschule in der DDR. Als 33-Jähriger wird er wenige Monate nach dem Mauerfall ohne weitere Begründung aus dem Schuldienst entlassen. Dem Gefühl der Kränkung begegnet er mit einem bitter-süßen Trostpflaster. Täglich eine halbe Tafel bittere Schokolade wird ihm zur Gewohnheit. Als Lehrer für Geschichte bleibt ihm nur das Umsatteln auf einen völlig neuen Beruf.
Erst nach sieben Jahren Langzeitarbeitslosigkeit, unterbrochen lediglich durch zwei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, kann er sich eine Umschulung zum Physiotherapeuten und Gymnastiklehrer erkämpfen. Den plötzlichen Anforderungen und dem Prüfungsstress begegnet er mit Schokolade, Marzipan, gebrannten Mandeln und Lakritze.
Im Laufe der Abende, an denen er die lateinischen Begriffe aus Anatomie und Physiologie paukt, kommt der Appetit auf Salziges hinzu. Belegte Brote, gesalzene Nüsse oder Knäckebrot mit gesalzener Erdnussbutter futtert er nebenbei in unkontrollierter Menge. Immer wieder versucht er die Nahrungsmengen zu reduzieren, erlaubt sich während der regulären Mahlzeiten nur Gemüse, Rohkost und mageres Fleisch. Am Abend jedoch löffelt er bergeweise Knuspermüsli. Gleichzeitig vergrößert sich seine Befürchtung, als Gymnastiklehrer zu dick zu werden und dadurch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Angst vor der erneuten Erwerbslosigkeit wächst.
Nach einer traumatischen Erfahrung, wozu der Verlust eines nahen Angehörigen, Krieg, Terror, Flucht, sexueller Missbrauch in der Kindheit oder eben auch Zeiten der Arbeitslo- sigkeit gehören, können weitreichende Beeinträchtigungen und Veränderungen der Toleranz gegenüber Stress die Folge sein, die sich noch Jahrzehnte später zeigten. Dazu gehören Verhaltensweisen wie das Vermeiden von Situationen, die an das Trauma erinnern, Albträume, Gefühle emotionaler Stumpfheit, Freudlosigkeit, aber auch Übererregtheit, übermäßige Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Schlafstörungen und Depressionen. Es entsteht chronischer Stress, der durch die täglichen Anforderungen kaum erklärbar erscheint. Das intensive Stresserleben wirkt sich auf Nervenbotenstoffe und die Funktion der Nebennieren aus. Dies kann eine erhöhte Nahrungsaufnahme fördern.
Der Psychologe Michael Macht von der Universität Würzburg sieht vor allem in dem sogenannten emotionalen Essverhalten, bei dem Menschen versuchen, ihre unangenehmen Gefühle mithilfe von Essen zu regulieren, den entscheidenden Me- chanismus bei der Entstehung von Essstörungen. In seinem Beitrag zu dem Tagungsband »Essbiografie« (Herausgeber: Dr.-Rainer-Wild-Stiftung) heißt es: »Tatsächlich sind Störungen des Essverhaltens nach traumatischen Erfahrungen oft verzweifelte Versuche, diese zu bewältigen.«
Im Verlauf kommen weitere Faktoren im Umgang mit Essen hinzu, zum Beispiel ungünstige Ernährungsgewohnheiten in der Familie, Nahrungsmittelverbote, starkes Übergewicht eines Elternteils, wenig körperliche Bewegung. Ein geringes Selbstwertgefühl trägt dann zur Entstehung einer Essstörung bei, die durch anfallartiges Essen gekennzeichnet ist, auch Binge-Eating-Störung genannt.
Zu den therapeutischen Maßnahmen bei unkontrollierbaren Essanfällen gehören folgende Schritte: Erstens müssen verursachende psychische Probleme bearbeitet werden, etwa in einer kognitiven Verhaltenstherapie. Zweitens werden geeignete Strategien zur Stressbewältigung (Sport, Entspannungstechniken, Freunde treffen oder anrufen, Zeitung lesen) und Möglichkeiten zur Regulierung von Gefühlen (Musizieren, Tagebuchschreiben, Malen, Modellieren) erprobt. Drei regelmäßige Mahlzeiten am Tag können dazu beitragen, Heißhunger und Essanfällen vorzubeugen.
Dennoch kann eine solche Verhaltensänderung nicht nur im individuellen Möglichkeitsraum verhan- delt werden. Sich gesellschaftlich anerkannt zu fühlen, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung zu erfahren, sind wichtige Voraussetzungen, um sich selbst zu einem gesunden Essverhalten zu motivieren und sein eigenes Bemühen wertzuschätzen. Das führt bis hin zu der Frage, wie die jeweilige Biografie des Essens in der Altenpflege berücksichtigt wird. Besonders wenn Geruchsund Geschmackssinn abnehmen, dienen geeignete Lieblingsspeisen als Brücke zur Erinnerung. Sie können den Appetit steigern und zum Erhalt der Lebensfreude beitragen. Für Hochbetagte, die an Demenz leiden, kann es von hohem Wert sein, wenn ihre Essbiografie den pflegenden Menschen bekannt ist. So erzählt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin in einem Hospiz, dass Menschen sich vor dem Ende ihres Lebens wünschen, noch einmal ein Schmalzbrot, eine kleine Dose Büchsenfleisch mit Aspik oder ein Schälchen »Schokoladenpudding ohne Haut« zu verzehren.
Nach Meinung des Schweizer Gerontologen, Heimleiters und Küchenchefs Markus Biedermann sollte die Menüplanung grundsätzlich in Zusammenarbeit von Küche und Heimbewohnern erfolgen. Dabei kann das Aufschreiben von alten Kochrezepten aus der eigenen Familientradition oder von Erinnerungen an bestimmte Speisen zu glücklichen, geselligen Anlässen eine der Grundlagen für ein zufriedenes Leben im hohen Alter werden.
Für Hochbetagte, die an Demenz leiden, kann es von hohem Wert sein, wenn ihre Essbiografie den pflegenden Menschen bekannt ist.