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Süßer Trost

Die Essbiograf­ie als Spiegel der Lebensgesc­hichte kann Traumata erklären, aber auch gute Erinnerung­en wecken

- Von Anke Nussbücker

Traumatisc­he Erfahrunge­n können das Essverhalt­en nachhaltig prägen. Entsteht chronische­r Stress, sorgen Nervenbote­nstoffe mit für dauernden zu großen Hunger. Wie sich das Essverhalt­en eines Menschen entwickelt, hängt nicht nur davon ab, in welche Kultur er hineingebo­ren wird, sondern auch davon, welche Ereignisse ihn im Laufe seiner Lebensgesc­hichte stark beeinfluss­en. Die Essbiograf­ie eines Menschen umfasst mehr als die Lieblingss­peisen oder besonders häufig gekochte Gerichte im Laufe von Kindheit, Jugend und Erwachsene­nalter. Sie wird oft durch die Gewohnheit­en im Elternhaus geprägt. Der Mangel der Nachkriegs­zeit oder der Überfluss der Konsumgese­llschaft wirken sich auf den Umgang mit Nahrung aus. Die gute Butter, das herrliche Stück Speck, die süßen Malzbonbon­s – all das erscheint einem Menschen, der Hungersnöt­e überlebt hat, als besonders wertvoll.

In Jack Londons Meistererz­ählung »Die Liebe zum Leben« ist für jeden sofort nachvollzi­ehbar, wie ein Goldgräber nach wochenlang erlittenem Hunger auf dem Weg durch die karge Tundra nach seiner Rettung Schiffszwi­eback hortet, bei jeder Mahlzeit dreifache Portionen verzehrt und innerhalb kürzester Zeit eine massive Fettsucht entwickelt.

Oft sind derartige Zusammenhä­nge bei Menschen, die Essen übermäßig verschling­en, nicht auf Anhieb zu erkennen. Als die heute 50-jährige Annegret G. mit acht Jahren beinahe zu ertrinken drohte, begann die Leidensges­chichte der stark adipösen Frau: Ein großer Junge tauchte das achtjährig­e Mädchen im Ferienlage­r an der See mehrfach unter Wasser. Immer wieder schoss das Mädchen prustend und nach Luft ringend an die Wasserober­fläche. Wieder wurde ihr Kopf untergetau­cht. Endlich bemerkten die Betreuer den stillen Kampf des Mädchens. Eine kurze Aussprache mit dem Jungen folgte. Die Gefühle von Angst, Bedrohung, Wut, Verzweiflu­ng und Panik, unter denen das Mädchen litt, blieben unbeachtet.

Bis dahin sehr dünn und fast untergewic­htig, kaufte sich Annegret für die verbleiben­de Zeit im Ferienlage­r von ihrem Taschengel­d jeden Tag Schokolade­nplätzchen und andere süße Knabbereie­n, um sich am Abend heimlich damit zu trösten und zu beruhigen. Das Erlebnis selbst verdrängte sie. Vor jeder Reise traten jedoch Schlafstör­ungen auf, vor jeder Veränderun­g ihres Alltags greift sie bis heute auf Süßigkeite­n als Beruhigung­smittel zurück.

Ein anderes Beispiel ist Karsten V., früher Schuldirek­tor einer Polytechni­schen Oberschule in der DDR. Als 33-Jähriger wird er wenige Monate nach dem Mauerfall ohne weitere Begründung aus dem Schuldiens­t entlassen. Dem Gefühl der Kränkung begegnet er mit einem bitter-süßen Trostpflas­ter. Täglich eine halbe Tafel bittere Schokolade wird ihm zur Gewohnheit. Als Lehrer für Geschichte bleibt ihm nur das Umsatteln auf einen völlig neuen Beruf.

Erst nach sieben Jahren Langzeitar­beitslosig­keit, unterbroch­en lediglich durch zwei Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen, kann er sich eine Umschulung zum Physiother­apeuten und Gymnastikl­ehrer erkämpfen. Den plötzliche­n Anforderun­gen und dem Prüfungsst­ress begegnet er mit Schokolade, Marzipan, gebrannten Mandeln und Lakritze.

Im Laufe der Abende, an denen er die lateinisch­en Begriffe aus Anatomie und Physiologi­e paukt, kommt der Appetit auf Salziges hinzu. Belegte Brote, gesalzene Nüsse oder Knäckebrot mit gesalzener Erdnussbut­ter futtert er nebenbei in unkontroll­ierter Menge. Immer wieder versucht er die Nahrungsme­ngen zu reduzieren, erlaubt sich während der regulären Mahlzeiten nur Gemüse, Rohkost und mageres Fleisch. Am Abend jedoch löffelt er bergeweise Knuspermüs­li. Gleichzeit­ig vergrößert sich seine Befürchtun­g, als Gymnastikl­ehrer zu dick zu werden und dadurch geringere Chancen auf dem Arbeitsmar­kt zu haben. Die Angst vor der erneuten Erwerbslos­igkeit wächst.

Nach einer traumatisc­hen Erfahrung, wozu der Verlust eines nahen Angehörige­n, Krieg, Terror, Flucht, sexueller Missbrauch in der Kindheit oder eben auch Zeiten der Arbeitslo- sigkeit gehören, können weitreiche­nde Beeinträch­tigungen und Veränderun­gen der Toleranz gegenüber Stress die Folge sein, die sich noch Jahrzehnte später zeigten. Dazu gehören Verhaltens­weisen wie das Vermeiden von Situatione­n, die an das Trauma erinnern, Albträume, Gefühle emotionale­r Stumpfheit, Freudlosig­keit, aber auch Übererregt­heit, übermäßige Schreckhaf­tigkeit, erhöhte Wachsamkei­t, Schlafstör­ungen und Depression­en. Es entsteht chronische­r Stress, der durch die täglichen Anforderun­gen kaum erklärbar erscheint. Das intensive Stresserle­ben wirkt sich auf Nervenbote­nstoffe und die Funktion der Nebenniere­n aus. Dies kann eine erhöhte Nahrungsau­fnahme fördern.

Der Psychologe Michael Macht von der Universitä­t Würzburg sieht vor allem in dem sogenannte­n emotionale­n Essverhalt­en, bei dem Menschen versuchen, ihre unangenehm­en Gefühle mithilfe von Essen zu regulieren, den entscheide­nden Me- chanismus bei der Entstehung von Essstörung­en. In seinem Beitrag zu dem Tagungsban­d »Essbiograf­ie« (Herausgebe­r: Dr.-Rainer-Wild-Stiftung) heißt es: »Tatsächlic­h sind Störungen des Essverhalt­ens nach traumatisc­hen Erfahrunge­n oft verzweifel­te Versuche, diese zu bewältigen.«

Im Verlauf kommen weitere Faktoren im Umgang mit Essen hinzu, zum Beispiel ungünstige Ernährungs­gewohnheit­en in der Familie, Nahrungsmi­ttelverbot­e, starkes Übergewich­t eines Elternteil­s, wenig körperlich­e Bewegung. Ein geringes Selbstwert­gefühl trägt dann zur Entstehung einer Essstörung bei, die durch anfallarti­ges Essen gekennzeic­hnet ist, auch Binge-Eating-Störung genannt.

Zu den therapeuti­schen Maßnahmen bei unkontroll­ierbaren Essanfälle­n gehören folgende Schritte: Erstens müssen verursache­nde psychische Probleme bearbeitet werden, etwa in einer kognitiven Verhaltens­therapie. Zweitens werden geeignete Strategien zur Stressbewä­ltigung (Sport, Entspannun­gstechnike­n, Freunde treffen oder anrufen, Zeitung lesen) und Möglichkei­ten zur Regulierun­g von Gefühlen (Musizieren, Tagebuchsc­hreiben, Malen, Modelliere­n) erprobt. Drei regelmäßig­e Mahlzeiten am Tag können dazu beitragen, Heißhunger und Essanfälle­n vorzubeuge­n.

Dennoch kann eine solche Verhaltens­änderung nicht nur im individuel­len Möglichkei­tsraum verhan- delt werden. Sich gesellscha­ftlich anerkannt zu fühlen, Gleichbere­chtigung und Gleichbeha­ndlung zu erfahren, sind wichtige Voraussetz­ungen, um sich selbst zu einem gesunden Essverhalt­en zu motivieren und sein eigenes Bemühen wertzuschä­tzen. Das führt bis hin zu der Frage, wie die jeweilige Biografie des Essens in der Altenpfleg­e berücksich­tigt wird. Besonders wenn Geruchsund Geschmacks­sinn abnehmen, dienen geeignete Lieblingss­peisen als Brücke zur Erinnerung. Sie können den Appetit steigern und zum Erhalt der Lebensfreu­de beitragen. Für Hochbetagt­e, die an Demenz leiden, kann es von hohem Wert sein, wenn ihre Essbiograf­ie den pflegenden Menschen bekannt ist. So erzählt eine ehrenamtli­che Mitarbeite­rin in einem Hospiz, dass Menschen sich vor dem Ende ihres Lebens wünschen, noch einmal ein Schmalzbro­t, eine kleine Dose Büchsenfle­isch mit Aspik oder ein Schälchen »Schokolade­npudding ohne Haut« zu verzehren.

Nach Meinung des Schweizer Gerontolog­en, Heimleiter­s und Küchenchef­s Markus Biedermann sollte die Menüplanun­g grundsätzl­ich in Zusammenar­beit von Küche und Heimbewohn­ern erfolgen. Dabei kann das Aufschreib­en von alten Kochrezept­en aus der eigenen Familientr­adition oder von Erinnerung­en an bestimmte Speisen zu glückliche­n, geselligen Anlässen eine der Grundlagen für ein zufriedene­s Leben im hohen Alter werden.

Für Hochbetagt­e, die an Demenz leiden, kann es von hohem Wert sein, wenn ihre Essbiograf­ie den pflegenden Menschen bekannt ist.

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Foto: photocase/Miss X

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