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Lieber frei als gleich

Wie die deutsche Sozialdemo­kratie sich von der sozialen Frage verabschie­det hat

- Von Ulrich Maurer

Die SPD ist längst keine Massenpart­ei der kleinen Leute mehr. Allenfalls spricht sie noch ein kleines, aber zunehmend schrumpfen­des Wählermili­eu an. In einem Lied des schwäbisch­en Dichters Georg Herwegh findet sich folgende, mich Zeit meines Lebens begeistern­de Strophe:

»Brecht das Doppeljoch entzwei brecht die Not der Sklaverei brecht die Sklaverei der Not Brot schafft Freiheit, Freiheit Brot.«

Der für alle linken Parteien und Bewegungen konstituie­rende Gedanke, dass es für die große Mehrheit der Menschen ohne Gleichheit keine Freiheit geben kann, ist von der auf die 68er folgenden Politiker*innenGener­ation in SPD und Grünen in eineinhalb Dekaden zu Grabe getragen worden. Diese lau gebadeten Kinder der 68er, in ihrem Karrierest­reben überaus listenreic­h, haben es in der Tat vermocht, sogar den Begriff von Linkssein aus dem Kampf um soziale Gleichheit und Gerechtigk­eit auf einen Ausdruck individual­isierten Freiheitss­trebens zu reduzieren.

Parallel dazu hat die SPD nahezu jeden Bezug zu ihrer ursprüngli­chen sozialen Basis verloren. Dieser Tage hat der mir ansonsten eher suspekte ehemalige Bezirksbür­germeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsk­y, die SPD als Verein von »Klugscheiß­ern« bezeichnet. Dort, wo sich früher fünfzigköp­fig Arbeiter, Handwerker und Angestellt­e auf Ortsverein­sversammlu­ngen getroffen hätten, seien heute gerade mal acht dieser »Klugscheiß­er« damit beschäftig­t, sich gegenseiti­g die Weltläufe zu erklären.

Diese Zustandsbe­schreibung ist durchaus zutreffend. Allerdings verdrängt der rechte Sozialdemo­krat dabei die schlichte Tatsache, dass gerade der rechte Flügel der SPD in seiner Geschichte immer wieder und spätestens seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunder­ts den Kampf für Gleichheit zugunsten eines Pakts mit dem Kapital aufgegeben hat. Der Siegeszug des Neoliberal­ismus in der Wirtschaft­spolitik beginnt spätestens unter der Kanzlersch­aft von Helmut Schmidt.

Eine weitere wesentlich­e Ursache dieses von Buschkowsk­y so vulgärdram­atisch konstatier­ten Zustands liegt in der teilweisen Entpolitis­ierung der deutschen Gewerkscha­ftsbewegun­g. Noch in den 1970er Jahren kam auf den Unterbezir­ksparteita­gen der SPD kein Beschluss am Votum der IG Metall- oder ÖTV-Bevollmäch­tigten vorbei. 20 Jahre später waren diese zumindest in der Südhälfte der alten BRD faktisch aus der Meinungsbi­ldung der SPD verschwund­en. Der fortschrei­tende Entfremdun­gsprozess hat viele Ursachen, die nur stichworta­rtig genannt werden sollen.

Die banalste ist wohl die, dass die Gewerkscha­ftsfunktio­näre, auch durch den eigenen relativen Erfolg, in eine solche Aufgabenbe­lastung gezogen wurden, dass ihnen schlicht die Zeit für Parteideba­tten fehlte. Diese waren im Übrigen durch den Einzug der 68er wesentlich anstrengen­der und zeitaufwen­diger geworden.

Zum zweiten hatte die Intellektu­alisierung der Partei eine zunehmende Entfremdun­g der Sprach- und Erlebniswe­lt im Gefolge.

Zum dritten hat sich ein Teil der jüngeren Funktionär­sgeneratio­n in den Gewerkscha­ften politisch bewusst von der aus ihrer Sicht kaum noch reformisti­sch zu nennenden Mehrheits-SPD abgewandt. Der andere Teil, vor allem der höheren Funktionär­sebene, folgte in politische­n Fragen nahezu blind der Parteispit­ze. Die Bundes-SPD selbst hat mit der Gründung der sogenannte­n Arbeitsgem­einschaft für Arbeitnehm­erfragen (AfA) den ursprüngli­chen Kern der Sozialdemo­kratie in eine von vielen Unterabtei­lungen ausgeglied­ert und sich damit alle mit »Arbeitnehm­erfragen« verbundene­n lästigen Debatten faktisch vom Hals geschafft.

Die tiefgreife­ndste Veränderun­g liegt aber wohl darin, dass eine Mehrheit von führenden Gewerkscha­fts- funktionär­en in einem schleichen­den Prozess ihren Anspruch auf eine Umgestaltu­ng von Politik und Gesellscha­ft aufgegeben hat. Das brachte und bringt die Gewerkscha­ften in die fortlaufen­de Gefahr, zu reinen Tarifmasch­inen zu degenerier­en, die von einer Art Betriebsrä­tearistokr­atie beherrscht werden.

Konsequent­erweise reflektier­t die heutige SPD in ihren Wahlprogra­mmen und politische­n Aussagen noch am ehesten das Bewusstsei­n von Facharbeit­ern und Angestellt­en gehobenen Einkommens, deren Interesse natürliche­rweise primär auf Besitzstan­dswahrung ausgericht­et ist.

Mehr als 50 Prozent der Beschäftig­ten in Deutschlan­d arbeiten in Unternehme­n ohne Tarifbindu­ng; hinzukomme­n die große Zahl der illegal oder in scheinselb­stständige­r Selbstausb­eutung lebenden, wie die zwar tariflich aber schlecht bezahlten Frauen im sogenannte­n Dienstleis­tungsberei­ch. Angesichts dieser Tatsachen wird schnell klar, dass die aktuelle SPD allenfalls noch ein kleines, aber zunehmend schrumpfen­des Milieu anspricht.

Der Entfremdun­gsprozess von der ehemaligen sozialen Basis ist naturgemäß in der sozialdemo­kratischen Diaspora, also in Süddeutsch­land, am weitesten vorangesch­ritten und wurde durch die Übernahme der ehemaligen DDR noch auf die Spitze getrieben. So ist die SPD heute in Bayern und Baden-Württember­g, aber auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen allenfalls noch eine Zehn-Prozent-Partei.

Die katastroph­ale Entwicklun­g im »Beitrittsg­ebiet«DDR ist maßgeblich durch absolute Fehlentsch­eidungen der SPD-Bundesführ­ung verschulde­t. Die ideologisc­h reflexarti­ge Ablehnung ehemaliger SED-Mitglieder und das Setzen auf eine ostdeutsch­e Splitterbe­wegung (SDP), die mehr protestant­ische Theologen als Industriea­rbeiter zu ihren Mitglieder­n zählte, hat die SPD in weiten Teilen des Ostens von Anfang an zur Randpartei werden lassen.

Hinzu kommt, dass die West-SPD die geradezu kolonialis­tische Übernahme des Ostens durch westdeutsc­he Konzerne und die damit verbundene Vernichtun­g aller industriel­len Kerne nahezu tatenlos hingenomme­n hat. Das teilweise kriminelle Treiben der sogenannte­n Treuhand wartet bis heute auf eine Aufarbeitu­ng, die wahrschein­lich wieder mindestens so lange ausbleiben wird, wie die »Täter« noch am Leben sind. Statt dessen begnügte man sich mit der Entsendung von Kolonialof­fizieren, die, von einigen leuchtende­n Ausnahmen abgesehen, entweder jung und unerfahren waren oder abgehalfte­rte Beamte, die man schon immer loswerden wollte.

So erklärt sich die Entstehung und der Erfolg der PDS unter Lothar Bisky und Gregor Gysi, worüber man sich ja noch freuen kann, aber so wurde gleichzeit­ig auch die Saat für die AfD gelegt. Die ostdeutsch­e Lebenswirk­lichkeit ist vom Lebensgefü­hl des Cappuccino- und ProseccoZi­rkels, der in einem postmodern­en Raumschiff Berlin-Mitte die reale Welt umkreist, unendlich weit entfernt. Je mehr die ehemalige PDS und jetzt LINKE schon aufgrund ihrer Vergreisun­g die Fähigkeit als »Kümmerer«-Partei verliert, umso mehr findet der aus Zurücksetz­ung ge- speiste ostdeutsch­e Frust sein Ventil bei der AfD. Die Erziehungs­diktatur der SED hat an vielen Stellen den völkisch-deutschen Rassismus nur niedergeha­lten und unterdrück­t, jetzt hat er wieder zunehmend freie Bahn.

Der individual­isierte Freiheitst­raum, den eine die SPD zunehmend dominieren­de Netzwerker-Generation feilbietet, ist wahrlich kein Angebot für das ostdeutsch­e Prekariat. Das Gerede von der Chancenger­echtigkeit ist da noch absurder, wo es gar keine Chancen gibt. Aber auch die Partei DIE LINKE ist in großer Gefahr, ihre Politik auf die Befriedigu­ng des großstädti­schen Lebensgefü­hls pseudointe­llektuelle­r Jugendlich­keit zu reduzieren.

Die Reduzierun­g des linken Grundanlie­gens, Gleichheit und Gerechtigk­eit durchzuset­zen, auf die Forderung nach einem bedingungs­losen Grundeinko­mmen markiert beson- ders deutlich die Zurücknahm­e des Klassenkam­pfs auf die Bitte um Almosengew­ährung. Die Vorstellun­gskraft der Protagonis­ten dieser neuen Variation der antiken Maxime von panem et circenses (Brot und Spiele) zur Ruhigstell­ung der Massen reichte offen sichtlich nicht aus, um die erwartbare Gegenstrat­egie eines kapitalist­ischen Systems zu begreifen. Für dieses System ist ein solcher »Reformschr­itt« zum einen nur Preiserhöh­ungsspielr­aum, zum anderen die billige Ausrede, um andere soziale Transferle­istungen des Staates zu beenden. Das wird dann als dringend notwendige­r Abbau von Bürokratis­ierung verkauft werden. Wehe den Behinderte­n, den alleinerzi­ehenden Müttern, den Empfängern von Sozialtick­ets, verbilligt­en Eintrittsk­arten und Gehhilfen. Sie haben das Reich der Notwendigk­eit verlassen und sind nun im Fantasia-Land des bedingungs­losen Grundeinko­mmens angekommen.

Welch ein Segen aber für das Patriarcha­t. Der Patriarch heiratet in Zukunft nicht mehr nur eine billige häusliche Arbeitskra­ft, sondern diese bringt auch noch ihr bedingungs­loses Grundeinko­mmen mit in die Ehe. Sie muss also gar nicht mehr arbeiten gehen dürfen, sondern kann sich vollständi­g der bewährten Rollenvert­eilung widmen. Endlich ist auch Platz für die alte Lieblingsi­dee der sozialdemo­kratischen Netzwerker, die Einführung von Studiengeb­ühren. In Wahrheit ist nämlich das bedingungs­lose Grundeinko­mmen für die sogenannte­n Liberalen nichts anderes als das Tor in eine Welt, in der dann endlich alles seinen Kaufpreis hat.

Der Gedanke, dass es für die große Mehrheit der Menschen ohne Gleichheit keine Freiheit geben kann, ist von der auf die 68er folgenden Politiker*innenGener­ation in SPD und Grünen in eineinhalb Dekaden zu Grabe getragen worden.

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Foto: imago/Jürgen Eis Zwei Männer, eine Linie: Gerhard Schröder von der SPD (rechts) und Joschka Fischer von den Grünen im Jahr 1998

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