Der Eiszeit entgegen
»Nicht zur Veröffentlichung bestimmt«: Die Aufzeichnungen der Elisabeth Borchers
Sie hat lange gezögert, ob sie dieses Buch schreiben sollte. Angeregt hatte es Arnold Stadler, der junge Freund und geschätzte Kollege, unter den Schriftstellern vielleicht der größte Bewunderer, den sie hatte. Man weiß es spätestens seit 2001. Damals wurde Elisabeth Borchers fünfundsiebzig Jahre alt, er versammelte zur Feier des Tages ihre schönsten Gedichte in einem Taschenbuch des SuhrkampVerlages (»Alles redet, schweigt und ruft«), und im Nachwort bekannte er gleich, was er auf die einsame Insel mitnähme. Natürlich Bücher, Lyrikbände vor allem, zuallererst freilich Gedichte von Elisabeth Borchers.
Von allen Dichterinnen, meinte er, sei sie »die spektakulär Unspektakulärste«, eine Doppelexistenz, viele Jahrzehnte lang Lektorin, erst bei Luchterhand, später bei Suhrkamp, damit legendärer »Teil der Literaturgeschichte und des Literaturbetriebs«, dazu eine Autorin mit mehreren Bänden eigenwilliger, scheinbar schlichter, stiller, wunderbar lakonischer Gedichte.
Im Frühsommer 1999 entschloss sich Elisabeth Borchers, den Blick auf Leben und Literatur doch zu wagen. »Wenn es gelingt, was mir Arnold empfohlen hat«, schrieb sie, »müsste der Titel lauten: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt.« Ein »rücksichtsloser Blick auf Verlag, Autoren, Bücher, Manuskripte« sollte es sein, ohne jede diplomatische Entschärfung. Nach ein paar Zeilen schon das erste (und drastische) Resümee: »Wohin man schaut und liest: Hochstapelei. Selbst in den oberen Rängen, selbst in den Logen. Man kommt nicht umhin, vor sich selbst zu erschrecken, wie dreist man (ich meine mich) zugestimmt hat, wohl wissend, dass es sich um Machwerke handelt.« Das ist starker Tobak, keine Frage, zumal weder Martin Walser (»Meßmers Gedanken« und die »Liebeserklärungen« ausgenommen) noch Max Frisch und Uwe Johnson dabei Absolution finden. Später, wenn es um mögliche Kandidaten für den Büchner-Preis geht, kommen weitere Autoren dazu, Jurek Becker etwa, dem sie einst riet, seinen Roman »Der Boxer« noch einmal zu schreiben, W. G. Sebald oder Reinhard Jirgl.
Elisabeth Borchers hat an dem Buch mit Unterbrechungen bis 2005 gearbeitet. Sie ließ das Manuskript abschreiben, las Korrektur und legte das Ganze dann, so fragmentarisch es war, weg. Vielleicht, hatte sie am Anfang erklärt, führten ihre Erinnerungen ins Leere, »dann werden sie vernichtet, von wem auch immer«. Möglich, dass dieses Vielleicht nun eingetreten war. Acht Jahre danach, Ende September 2013, starb sie, 87 Jahre alt und ohne die Aufzeichnungen noch einmal hervorgeholt zu haben. Ihr Sohn Ralf entdeckte die Seiten 2014 im Nachlass und hat sie, gemeinsam mit Martin Lüdke, der das ausführliche Nachwort beisteuerte, im Verlag Weissbooks veröffentlicht. Beim Titel, der als Möglichkeit erwogen war, ist es geblieben: »Nicht zur Veröffentlichung bestimmt«.
Man kann diesen Text, der nach einer Weile dazu übergeht, Tagebuchnotizen aneinanderzureihen, als eine böse, grimmige Abrechnung mit dem Literaturbetrieb und seinen Akteuren, Autoren, Kritikern, Medienleuten, lesen. Er liefert genügend Anhaltspunkte dafür, auch wenn der literarische »Pfusch«, der hier moniert wird, nirgendwo begründet ist. Aber er ist mehr. Die großartige Dichterin Borchers, die auch Autorin von Kinderbüchern und Hörspielen sowie Übersetzerin war, schreibt sich hier ihre (oft bitteren) Erfahrungen als Lektorin von der Seele. Sie ist ja aus der Geschichte des Suhrkamp-Verlages nicht wegzudenken, war dort eine hochgeachtete Instanz, hat in all den Jahren eine Menge namhafter, ja berühmter Schriftsteller betreut, war aber immer auch die Unsichtbare, die Dienerin, deren Anteil an einem gelungenen Buch verborgen blieb.
Manchmal waren’s nur Bagatellen, um die gestritten wurde. Einer bestand darauf, dass ein Fehler in seinem Buch nicht korrigiert wird, ein anderer, der auch von ihr sehr geschätzte Jakov Lind, ließ sich nicht davon abbringen, Singvögel Sangvö-
Sie ist aus der Geschichte des Suhrkamp-Verlages nicht wegzudenken, war dort eine hochgeachtete Instanz und war immer auch die Unsichtbare.
gel zu nennen. Gravierender jedoch die Kränkungen und Verletzungen, die sie erfuhr, etwa durch Marie-Luise Kaschnitz, die sich gegen Kürzungen und Verdichtungen in ihrem Buch »Orte« vehement wehrte (eine große Wochenzeitung hat dann ausgerechnet die Verknappung des Textes gefeiert) und ihre strenge Lektorin deshalb nicht unter ihren Geburtstagsgästen sehen wollte.
An einem Frühsommertag notiert Elisabeth Borchers: »Mit großen Schritten der Eiszeit entgegen.« Ein andermal der Satz: »Ich möchte eine Pistole besitzen, um die Chaosgeister zu zerballern.« Oder: »Wer trocknet mir die Tränen, ich habe wieder ein Stück Prosa gelesen …« Immer wieder Stoßseufzer, Klagen über die innere Unruhe, das Alter, die zuneh- mende Einsamkeit. Sie fragt sich, warum RW sich nicht meldet und warum HP nichts von sich hören lässt. Die Zeitung wird flüchtig durchblättert, das Interesse gilt den Todesanzeigen. Und dann der Anruf, der ausbleibt, der Anruf eines Mannes, ihrer schmerzhaften Altersliebe, die sie freilich dezent verhüllt hat. Im September 2004 der Tagebucheintrag: »In meinem Kalenderbuch nummeriere ich die Tage Deines Fortseins arabisch und umkreise sie mit Bleistift.« Noch die letzte Notiz endet mit einer Frage: »Warum nur warte ich auf deinen Anruf?«
Ein Buch der Erinnerungen, der Wunden, Enttäuschungen und Sehnsüchte, auch der krassen, ungerechten Urteile, Zeugnis einer hochsensiblen Lyrikerin, der die Welt, in der sie so lange sicher verankert war, allmählich entschwand. Dass ihre Aufzeichnungen jetzt doch den Weg in die Öffentlichkeit fanden, ist dem Weissbook-Verlag zu danken, 2008 gegründet von den langjährigen SuhrkampKollegen Anya Schutzbach und Rainer Weiss. Dort war kurz nach ihrem Tod unter dem Titel »Achtundachtzig«, der auf ihren 88. Geburtstag anspielte, schon ein schmaler Band ausgewählter Lyrik erschienen.
Eines dieser Gedichte, »Umzug«, abgedruckt auf der hinteren Umschlagklappe, liest sich wie das poetische Resümee des Fragments: »Ich räume das Haus / die Zimmer, die Treppen / die Jahre, Jahrzehnte / die Tage und Nächte / die Freunde, die Feinde / die Tassen, die Teller / die Kissen, die Decken / den Himmel, die Hölle / die Gräber / ich räume und räume / den Winter, den Sommer / den Wind und das Wetter.«
Elisabeth Borchers: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment, hg. und mit einem Nachwort von Martin Lüdke. Verlag Weissbooks, 167 S., geb., 22 €.