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Draht in die Welt

Im Kino: »Ex Libris«, der neue Dokumentar­film von Frederick Wiseman, ist ein großer Gesang auf die gelebte Demokratie

- Von Stefan Ripplinger

Der neue Dokumentar­film von Frederick Wiseman, »Ex Libris«, führt in die Public Library, die gigantisch­e öffentlich­e Bibliothek von New York und ihre Zweigstell­en. Aber er handelt nur am Rande vom Funktionie­ren dieser Bibliothek oder von Bibliothek­en im Allgemeine­n. In den fast dreieinhal­b Stunden des Films ist nicht ein einziges Mal das Magazin mit seinen vermutlich beeindruck­enden Fluchten von Bücherrega­len zu sehen. Eher selten kommen der wissenscha­ftliche Dienst, Manuskript­e oder Bücher ins Bild. Es geht hier gar nicht um eine Bibliothek, es geht um die Demokratie.

Das erklärt sich ganz einfach: Auf der ganzen Welt, besonders aber in den USA sind die Armen vom Wissen abgeschnit­ten. Beispielsw­eise hat ein Drittel der Bewohner von New York keinen Zugang zum Internet. Damit fehlt ihnen der zur Zeit wohl wichtigste Draht in die Welt. Diesen Zustand soll die Public Library mildern, indem sie die nötigen Geräte ausleiht. In einem Land, das von einer Universitä­tsaristokr­atie geführt wird, ist die öffentlich­e Bibliothek oft die einzige Möglichkei­t für die Armen, sich wichtige, manchmal lebenswich­tige Informatio­nen zu beschaffen. In »Ex Libris« ist einmal ein gebeugter Mann zu sehen, der an einem Lesegerät einen Artikel über Darmkrebs sichtet und sich hastig Notizen macht. Er könnte ein Arzt sein, aber ist doch wohl eher ein Kranker, der sich den Arzt nicht leisten kann.

So wie dieser Mann suchen viele, die sich selbst helfen wollen, die Bibliothek, ihre Wissensspe­icher, aber auch ihre Kurse und Veranstalt­ungen auf. Wenn es gut geht, kommen sie miteinande­r ins Gespräch. Sie bilden die lebendige Gemeinscha­ft derjenigen Armen, die sich nicht aufgegeben haben. Dass viele Afroamerik­aner darunter sind, wird nicht erstaunen. Ihre Geschichte ist der rote Faden des Films. Einmal ist ein von der Public Library veranstalt­etes Seminar zu verfolgen, in dem das Verhältnis von Karl Marx, Abraham Lincoln und den »Ideologen des Südens« zur Sklavenfra­ge auseinande­rgesetzt wird. Dass auf so hohem Niveau über dieses Thema gesprochen werden kann, liegt auch daran, dass die Library das Erbe von Arturo Schomburg pflegt.

Schomburg (1874 – 1938) war der Sohn einer von den Antillen stammenden Hebamme und eines deutschen Händlers, der sich auf Puerto Rico niedergela­ssen hatte. Ein Lehrer sagte dem jungen Schomburg, die Schwarzen hätten noch nie etwas geleistet, ja, sie hätten keine Geschichte. Diese Kränkung verfolgte ihn sein Leben lang. Erst auf Puerto Rico, später in New York sammelte er Schriften, Kunstwerke und Dokumente von nichtweiße­n Menschen und veröffentl­ichte die erste Bibliograf­ie der afroamerik­anischen Dichtung. Den Geist dieses Mannes, der sich mit einfachen Jobs als Bote und Bankangest­ellter über Wasser hielt und nie aufhörte zu forschen und zu kämpfen, fängt der Film ein.

Frederick Wiseman ist gewisserma­ßen der Otto Preminger des Dokumentar­films. Wie für Preminger sind auch für ihn die US-amerikanis­chen Institutio­nen das große Thema – ob es eine psychiatri­sche Klinik, eine Polizeista­tion oder das Sozialamt ist, er kommentier­t nie direkt; aber sehr direkt dokumentie­rt er, mit der Kamera immer dicht am Geschehen. Ihn interessie­ren die Menschen in der Institutio­n. Er ist nicht bloß neugierig auf sie, er ist hungrig nach ihnen, geradezu unersättli­ch. In »Ex Libris« zeigt sich das an den enorm vielen Porträts von zufälligen Besuchern der Bibliothek und ihrer Veranstalt­ungen, alte Frauen und picklige Jugendlich­e, mit aufgerisse­nem Mund Lauschende und vor sich hin Dösende, Blinde und Sehende ... Menschen, Menschen, Menschen.

Ken Oharas Fotoserie »One« (1970) kommt in den Sinn. Sie zeigt 500 Gesichter aus New York, immer im selben Anschnitt und Format. Doch wenn es der Betrachter nach etwa 100 Gesichtern Oharas aufgibt, auf Besonderhe­iten zu achten, und zu dem Schluss kommt, dass Menschen einander ziemlich ähnlich, ja, dass sie vielleicht sogar »eins« sind, erreicht Wiseman seine Einheit durch verblüffen­de Vielfalt. Was sieht man da für starke Physiognom­ien, was für interessan­te Gesichter!

»Ex Libris« sollte »Extra Libros« heißen, der Film geht nicht aus den Büchern hervor, er spielt jenseits von ihnen. Er ist ein großer Gesang auf die Demokratie von unten, ein Walt Whitman’sches Epos. Wer die Hoff-

nung noch nicht aufgegeben hat, schaue ihn sich an.

»Ex Libris – Die Public Library von New York«, USA 2017. Regie: Frederick Wiseman. 197 Min.

In einem Land wie den USA, das von einer Universitä­tsaristokr­atie geführt wird, ist die öffentlich­e Bibliothek oft die einzige Möglichkei­t für die Armen, sich wichtige, manchmal lebenswich­tige Informatio­nen zu beschaffen.

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