Tragödie war gestern
Der französische Film »Sorry Angel«: Ein Schriftsteller erkrankt im Paris der frühen 90er Jahre an AIDS
Ein Film, in dem über zwei Stunden lang pausenlos geredet wird, bedarf der Rechtfertigung. Die hat »Sorry Angel« von Christophe Honoré auch, aber – das ist der Kunstgriff, auf den man sich einlässt oder nicht – die vielen Worte, die gesprochen werden, umkreisen doch immer nur eine große Stille: den Tod.
Denn Honoré versetzt uns in das Paris des Jahres 1993. Jacques ist Schriftsteller, schwul und ständig unterwegs auf der Suche nach neuen Abenteuern. Er lebt von seiner Frau getrennt und teilt sich mit ihr das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn. Vor allem: Er ist HIV-positiv, und das zu einer Zeit, da es noch keine Aussicht gab, AIDS zu überleben. Viele seiner Freunde und Bekannten aus der Szene sind entweder krank oder bereits gestorben. Dennoch versucht Jacques das Leben zu feiern, solange er das noch kann.
Doch seine ruhelose Umtriebigkeit irritiert. Hat ein Schriftsteller, den drohenden Tod vor Augen, denn keine anderen Sorgen als immer neue erotische Kontakte zu suchen? Offenbar nicht, und diese an Sturheit grenzende Konsequenz den eigenen Lebenslauf betreffend, ist dann auch das Thema von »Sorry Angel«. Ein sehr Pariser Motto: Ich bereue nichts. Oder wie Jacques sagt: »Ich bin zu alt, um jung zu sterben.«
Doch irgendwie mutet die Szenerie allzu seltsam an. Im Jahr 1993 ist der erste AIDS-Schock bereits vorüber, wer überleben will, ändert sein Sexualverhalten. Für Jacques ist es dafür zu spät, aber eine metaphysische Unruhe befällt ihn deswegen noch lange nicht. Ist dieser Film nun ein Resultat einer inzwischen stattgefundenen Historisierung der AIDS-Angst der 1980er Jahre? Wie anders ist der merkwürdig abgeklärte Gestus erklärbar – und mein eigenes Unbeteiligtsein beim Zuschauen ebenso?
Vielleicht redet Jacques für einen Schriftsteller auch einfach zu viel, vor allem – das ist verräterisch – gar nicht über seine Bücher. Statt dessen erfahren wir, was in der Szene ein »falscher Blonder« oder ein »Walt Whitman« ist. Jacques sagt gern Sätze wie diesen: »Ich bin fünfunddreißig und dazu verdammt, bei IKEA zu kaufen.« Nun gut, solch Snobismus lässt sich überleben, aber er fragt sich auch, wo seine Generation in zwanzig Jahren sein wird. Er fragt sich nicht, ob er dann überhaupt noch da- bei ist. Auch das mag für den Einzelnen eine Überlebensstrategie sein, doch gelingt es »Sorry Angel« nicht, die unter der Oberfläche weiter gärende Angst präsent zu halten.
Was mir an diesem Film fehlt, ist das Erkennbarwerden der Kontur des Schriftstellers Jacques, der sich plötzlich vor ein Thema gestellt sieht, das er nicht überleben wird – aber vielleicht könnte er wenigstens skizzieren, was dieses zu große Thema mit ihm macht? Das passiert nicht, Jacques’ Schriftstellerberuf hat mit seinem Dasein als Szenegänger offenbar wenig zu tun. Oder sollte man dies bereits als provokantes Lebenscredo verstehen: »Schwule, die keinen Toilettensex haben, haben auch nicht nie ein Buch gelesen.« Trau dich, die Schönheit zu beschmutzen, rät er einem Freund. Man ahnt, was Honoré mit seinem Film nicht sein will: auf keinen Fall eine AIDS-Tragödie. Aber was er anderes sein könnte, bleibt unklar. Diese allzu lässige Formlosigkeit, die Feier der Beliebigkeiten, muss man ihm vorwerfen. Ich jedenfalls glaube nicht an den hier behaupteten Gestus des Unbeeindrucktseins.
Zwei Bücher des schwulen französischen Schriftstellers Hervé Guibert passen – gewollt oder ungewollt – in die Filmszenerie. Guibert starb 1991 mit fünfunddreißig Jahren an AIDS und könnte insofern durchaus das Vorbild für den Schriftsteller Jacques sein. Aber beide trennt die An- und Abwesenheit von Unbedingtheit. Hervé Guibert protokol- liert mit erschütternder Kunstfertigkeit den fortschreitenden Verfall seines Körpers, ebenso den Verlust aller sozialen Beziehungen, die wachsenden Einsamkeit. Nach »Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat« muss er das Schreiben für ein Jahr unterbrechen, ein Medikament, das er testete, entkräftet ihn völlig. Dann veröffentlicht er sein »Mitleidprotokoll«, das eine ganz und gar mitleidlose Selbstbeschreibung ist. Im gleichen Jahr stirbt er. Diese beiden Bücher sollte man lesen, wenn es um AIDS geht.
Vielleicht redet Jacques für einen Schriftsteller auch einfach zu viel, vor allem – das ist verräterisch – gar nicht über seine Bücher.
»Sorry Angel«, Frankreich 2018. Regie: Christophe Honoré; Darsteller: Vincent Lacoste, Pierre Deladonchamps, Denis Podalydès. 132 Min.