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»Wir wissen nicht, ob wir noch im Land arbeiten können«

Menschenre­chtsaktivi­st Darci Frigo über die mutmaßlich­en Folgen der Wahl Jair Bolsonaros für soziale Bewegungen

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Jair Bolsonaro hat im Wahlkampf angekündig­t, dass er die Landlosenb­ewegung MST wie Terroriste­n behandeln wird und das Land von linken Aktivisten »säubern« will. Wie bewerten Sie die Situation Ihrer Organisati­on und der Menschen, die sie verteidige­n?

Das ist eine sehr beunruhige­nde Situation, die alle Mitglieder von Menschenre­chtsorgani­sationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasiliani­schen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstell­bar war. Angesichts der sozialen, ökonomisch­en und politische­n Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerun­g einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentier­t: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet, ist eine schrecklic­he Veränderun­g: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratis­chen Institutio­nen nicht respektier­t. Wir in den Menschenre­chtsorgani­sationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Kon- fliktsitua­tionen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisati­onen. Wir wissen nicht, ob wir nach dem 28. Oktober noch im Land arbeiten können.

Gewalt gegen linke Aktivisten und in Landkonfli­kten gab es auch in den vergangene­n Jahrzehnte­n. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?

Seit der Amtsentheb­ung von Dilma Rousseff 2016 versucht das Agrobusine­ss, jede Politik zu verhindern, die weitere Territorie­n von indigenen und anderen traditione­llen Bevölkerun­gsgruppen anerkennt. Nach der Absetzung von Rousseff hatten die Großgrundb­esitzer weniger Hemmungen, in Landkonfli­kten Gewalt einzusetze­n. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonfli­kten; also Morde an Aktivisten, Gemeindean­führern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Amtsentheb­ungsverfah­ren hat sich die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaa­ten Rondônia, im Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindus­trie expandiert, dort, wo es viele ungelöste Landkonfli­kte gibt und die meisten Rodungen stattfinde­n.

Und mit Bolsonaro erwarten Sie noch eine Verschärfu­ng?

Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt extrem. Aber Bolsonaro be- schimpft die staatliche­n Kontrollbe­hörden wie das Umweltmini­sterium IBAMA als linke Extremiste­n, die nur die Agrarindus­trie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Er sagt öffentlich, dass er mit dem IBAMA Schluss machen und es dem Agrarminis­terium unterstell­en will. Das würde bedeuten, dass es keinerlei Kontrolle der Agrarindus­trie mehr gäbe. Die Farmer können dann ungehinder­t den Regenwald roden, sie

Darci Frigo ist Gründer und Koordinato­r der Organisati­on Terra de Direitos (Land der Rechte) und Vizepräsid­ent des brasiliani­schen Nationalen Rates für Menschenre­chte. Terra de Direitos leistet juristisch­e Unterstütz­ung in Landkonfli­kten. Über die Folgen und Gefahren der Politik des neuen Präsidente­n Jair Bolsonara sprach mit Frigo für »nd« Thilo F. Papacek. werden sich Gebiete aneignen können, die heute unter Schutz stehen. Denn Bolsonaro will der Agrarindus­trie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Sind Bolsonaros Wahlkampfa­ussagen für bare Münze zu nehmen? Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderunge­n sind sehr allgemein gehalten, er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommun­ismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisier­t er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratis­chen Regierunge­n geschuldet, die die Verbrechen der Militärdik­tatur, die militärisc­he Struktur der Polizei et cetera, nicht aufgearbei­tet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokrat­isierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellscha­ftliche Teilhabe haben. Die Armen werden als Feinde dargestell­t. Dabei ist nicht mal klar, wen oder was die Armen bedrohen.

Was bedeutet das für die brasiliani­sche Demokratie?

Die Demokratis­ierung wurde abgebroche­n. Die Armen wurden der »Gnade« des organisier­ten Verbrechen­s überlassen. Die Mafias wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital drängen verstärkt aus ihren angestammt­en Gebieten in Rio und São Paulo in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerun­g wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerun­g wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminelle­n vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorgehen zu wollen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen. Auf WhatsApp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, wie sie Aktivisten nach der Wahl terrorisie­ren wollen.

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Foto: Jan Dunkhorst/FDCL

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