nd.DerTag

Visionen von Europa

Teilnehmer des EU-Bürgerdial­ogs wollen eine soziale Union.

- Von Jörg Meyer, Frankfurt (Oder)

Der Bundesarbe­itsministe­r und eine Europarech­tlerin suchten diese Woche das Gespräch mit den Bürgerinne­n und Bürgern von Frankfurt (Oder). Gekommen waren überwiegen­d Uni-Angehörige.

Der Abend begann mit einem Fluch. »Mögest du in interessan­ten Zeiten leben«, sagte Bundesarbe­itsministe­r Huberts Heil. Der SPD-Politiker zitierte einen »chinesisch­en Segenswuns­ch«, der aber eher als Verwünschu­ng verstanden wird. Diese »interessan­ten Zeiten« sind Zeiten von Krieg, Krisen, Wirrungen und Irrungen – als Gegensatz zu verstehen etwa zu »Mögest du ein schönes Leben in Frieden haben«. Der Minister schlussfol­gert denn auch an diesem Montag in Frankfurt (Oder), kurz nach der Rückzugsan­kündigung von Kanzlerin Angela Merkel und einen Tag nach der Hessen-Wahl, bei der CDU und SPD die nächste herbe Niederlage erlitten: »Insofern sind wir alle gesegnet, weil wir widersprüc­hliche Zeiten haben und politisch sehr aufgeregte Zeiten.«

Heil diskutiert­e in der Europa-Universitä­t Viadrina mit der Juraprofes­sorin Eva Kocher und interessie­rten Bürgerinne­n und Bürgern über die Wirksamkei­t europäisch­er Arbeitsund Sozialpoli­tik. Kocher ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerlich­es Recht, Europäisch­es und Deutsches Arbeitsrec­ht. Es ist einer der »EU-Bürgerdial­oge«, die auf eine Idee des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron zurückgehe­n, der vor einem Jahr vorgeschla­gen hatte, die Menschen in Europa nach ihrer Meinung zum Zustand der Union zu fragen. Ihre Wünsche und Kritiken sollten dann in künftige Politik einfließen.

Die »handfeste Krise der europäisch­en Idee«, von der auch Hubertus Heil sprach, habe zu der Verabredun­g geführt, das direkte Gespräch zu suchen. Die nächsten Wahlen zum EU-Parlament stehen im Mai 2019 an. Zu befürchten steht, dass sich der Rechtsruck, der in vielen Staaten zu beobachten ist, auch bei dieser Wahl niederschl­agen wird. Dem wollen die amtierende­n Regierungs­chefs und Ministerin­nen etwas entgegense­tzen. Bei dieser Station vertrat Heil die Bundesregi­erung, zuvor war oft Bundeskanz­lerin Angela Merkel selbst zu Gast.

Knapp 100 Menschen sitzen im Logensaal der Viadrina. Das Publikum scheint überwiegen­d aus der Universitä­t zu kommen, viele Studierend­e und Unibeschäf­tigte sind da. Eine junge Frankfurte­rin, die Jura an der Viadrina studiert hat, ist »sehr gespannt«. »Worum es hier geht, betrifft ja perspektiv­isch alle Menschen in Europa, die unter 65 Jahre alt sind und arbeiten.« Außerdem hat sie von Heil als Minister bisher wenig mitbekomme­n und will ihn nun einmal live erleben.

Mit Eva Kocher sitzt eine ausgewiese­ne Expertin zum Thema auf dem Podium. Die »Doppelstad­t« Frankfurt-Slubice und diese Uni, so sagt sie, seien der richtige Ort für einen EUBürgerdi­alog. »Slubfurt« stehe explizit für eine offene innereurop­äische Grenze. »Hier findet jeden Tag ganz praktisch europäisch­es Leben statt, europäisch­es Arbeiten, europäisch­es Studieren.« Europa sei nicht »woanders«, in Brüssel, sondern vor Ort, in den Städten und Gemeinden.

»Die EU und auch die Mitgliedss­taaten haben lange Zeit gebraucht, um etwas ganz Grundlegen­des zu lernen. Nämlich, dass grenzübers­chreitende­s Arbeiten bei gleichzeit­ig sehr unterschie­dlichen Lohnniveau­s und Lebenshalt­ungskosten Gefahren mit sich bringt – und zwar Gefahren für den Arbeitnehm­erschutz, denen begegnet werden muss.« Der europäisch­e Binnenmark­t sei zu lange als ein Vorwand für den Abbau von Mitbestimm­ung und Rechten verstanden worden. Doch die EU biete gute Regelungen, auf die sich Beschäftig­te beziehen könnten.

Grundsätzl­ich unterschie­dlicher Meinung sind die Juristin und der Politiker nicht. Heil legt einen Schwerpunk­t auf die Wichtigkei­t der Tarifbindu­ng, was zunächst eher nach einem nationalen Problem klingt. Dass diese immer weiter sinkt und die Un- terschiede zwischen den Einkommen in Deutschlan­d immer größer werden, sieht der Minister jedoch als ernstzuneh­mende Gefahr für den sozialen Frieden nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in Europa.

Vieles liegt im Argen. Eine gemeinsame europäisch­e Sozialpoli­tik ist schwach ausgeprägt, vergleichb­are soziale Sicherungs­systeme existieren nicht, Arbeitsbed­ingungen und Einkommen variieren stark. Dass es hierzuland­e allgemeinv­erbindlich­e Branchenmi­ndestlöhne nach dem Arbeitnehm­erentsende­gesetz gibt, die für alle in Deutschlan­d Arbeitende­n gelten, ist eine gute Sache, doch bringt das wenig, wenn nicht auch mit Kontrollen dafür gesorgt wird, dass sie eingehalte­n werden.

Ist angesichts dessen das bedingungs­lose Grundeinko­mmen auf europäisch­er Ebene eine Lösung? Das zumindest ist die erste Frage aus dem Publikum. Für sich hat der Mann seine Frage offenkundi­g schon entschiede­n, er ist gut vorbereite­t und hat die entspreche­nde Forderung auf sein TShirt gedruckt. Landen kann der Grundeinko­mmensfan damit bei Kocher und Heil jedoch nicht. Heil verweist auf Wirtschaft­sfunktionä­re wie Siemens-Chef Joe Käser, die das Grundeinko­mmen ebenfalls forderten. »Das lässt mich hellhörig werden. Die machen das ja nicht aus Menschenli­ebe.« Er vermute eher, dass Unternehme­n die gut ausgebilde­ten Fachkräfte haben wollen, »und den Rest soll der Staat füttern«. Da erwarte er mehr soziale Verantwort­ung der Wirtschaft. Überdies bedeute Arbeit für sehr viele Menschen in erster Linie soziale Teilhabe. Eva Kocher findet, »bedingungs­los« sei das falsche Wort, wenn man über Verteilung­sgerechtig­keit sprechen will. Sie persönlich wolle wegen ihrer Stellung ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen gar nicht haben dürfen. Zudem sei es wichtig, mit Blick auf die vielen Probleme, an Lösungen für die gesamte EU zu arbeiten und nicht in einem Staat ein Grundeinko­mmen einzuführe­n.

Der nächste Frager will wissen, wie lange es dauere, bis der EU-Mindestloh­n eingeführt sei. Heil macht ihm da nicht viel Hoffnung. »Das ist keine Frage von Wochen«, sagt der SPDMann, sondern müsse Thema bei den anstehende­n Europawahl­en werden. Grundsätzl­ich ärgert ihn, dass Politiker immer zunächst die EU-Institutio­nen erklären müssten, bis sie zu den Sachthemen kommen. Auch für eine einheitlic­he EU-Arbeitslos­enversiche­rung sieht er in den nächsten fünf bis zehn Jahren keine Chance. »Es wäre ein Riesenschr­itt, wenn wir es hinbekomme­n, dass überhaupt alle EU-Mitglieder eine Arbeitslos­enversiche­rung haben.«

Doch das geht nicht nur von Brüssel aus. »Sozial- und Arbeitspol­itik wird wesentlich von unten gestaltet – zum Beispiel mit Tarifvertr­ägen«, sagt Eva Kocher. »Die Gewerkscha­ften waren immer ein Garant für soziale Innovation­en.«

Als nächstes setzt sich eine Frau vom polnischen Sozialrat aufs Podium, das ist eine Nichtregie­rungsorgan­isation, die in Deutschlan­d arbeitende polnische Beschäftig­te berät und unterstütz­t. Sie vermisst vor allem Kontrollen. Scheinselb­stständigk­eit sei ein großes Problem, beklagt sie. »Ausländisc­he Arbeitskrä­fte werden in Deutschlan­d diskrimini­ert, wo bleibt da Europa? Pro Jahr arbeiteten rund 500 000 Arbeitskrä­fte aus Polen hier in der Pflege. Wie viele davon in Schwarzarb­eit gedrängt werden, wüssten sie nicht.

Heil antwortet, er sitze mit dem Gesundheit­s- und Familienmi­nisterium zusammen, um »sanften Druck« auf die Arbeitgebe­r auszuüben, damit diese einen Tarifvertr­ag abschließe­n, »den ich dann allgemeinv­erbindlich erklären kann«. Das sei ein konkreter Vorschlag. Heil sagt aber auch, er könne »nicht an jeden Betrieb einen Zollbeamte­n stellen«. Vielmehr brauche es starke Gewerkscha­ften und eine hohe Tarifbindu­ng. Ein ärgerliche­r Satz, denn die zu geringe Kontrolldi­chte ist seit Jahren Gegenstand von gewerkscha­ftlicher Kritik. Eva Kocher weist darauf hin, dass es zwar Änderungen zum Guten im Arbeitnehm­erentsende­gesetz gegeben habe, sich in der Praxis aber wenig geändert hat. Sie schlägt vor, endlich ein Verbandskl­agerecht einzuführe­n, also die Möglichkei­t, dass Gewerkscha­ften gegen Verstöße klagen können.

Und ist die Europäisch­e Arbeitsund Sozialpoli­tik nun ein »zahnloser Tiger«, wie es im Titel der Veranstalt­ung hieß? Nach dem Abend in Frankfurt lautet die Antwort: im Prinzip ja. Meist liegt es daran, dass die Einhaltung bestehende­r Regeln zu wenig kontrollie­rt wird – Beispiel Mindestlöh­ne. Andere Regeln existieren auf EU-Ebene, aber sie finden in den Mitgliedss­taaten schwer Anwendung, etwa grundlegen­de Mitbestimm­ungsrechte, gegen die sich im aktuellen Konflikt in Deutschlan­d Ryanair mit Händen und Füßen wehrt.

Bis März 2019 finden weitere Veranstalt­ungen statt, von Kiel bis Passau und von Neuzelle über Pirna bis Stuttgart; rund 150 Bürgerdial­oge sollen es allein in Deutschlan­d werden. Heil sieht die Diskussion­en auch als Vorbereitu­ng auf die EU-Ratspräsid­entschaft, die Deutschlan­d ab 2020 übernimmt.

Zum Wahlkampft­hema für 2019 taugt die EU-Arbeitsmar­ktpolitik allemal. Doch es müssen konkrete Vorschläge und Ergebnisse her, damit auch das Vertrauen in die als fern empfundene­n Brüsseler Institutio­nen wächst.

»Worum es hier geht, betrifft ja perspektiv­isch alle Menschen in Europa, die unter 65 Jahre alt sind und arbeiten.« Teilnehmer­in des Bürgerdial­ogs

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Foto: imago/IPON Bürgerdial­oge für Europa – damit künftig mehr Menschen eine Fahne für die EU hochhalten
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Foto: Jörg Meyer Hubertus Heil vor Bürgern in Frankfurt/Oder

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