nd.DerTag

Einer isst, der andere schaut zu

Die türkische Regierung protzt mit großen Projekten, während Millionen von Menschen arm sind, meint Yücel Özdemir

- Übersetzun­g: Svenja Huck

Der »Istanbul Flughafen« wurde wie erwartet zum 95. Jubiläum der türkischen Republikgr­ündung am Montag eröffnet. Es befinden sich aber noch 34 Arbeiter in Haft, die am 14. September zu Tausenden gegen die sklavenart­igen Arbeitsbed­ingungen protestier­ten ... Auf dem Grund von Präsident Erdogans Prestigepr­ojekt befindet sich Blut von mindestens 38 Arbeitern, die während der Bauarbeite­n gestorben sind. Einige Tage vor der Eröffnung wurde der Leichnam eines Arbeiters gefunden, doch während der Feierlichk­eiten erwähnte Erdogan weder die Menschen, die ihr Leben verloren, noch die Aufrufe der Gewerkscha­ften mit nur einem Wort. Die Aktionen für die Freilassun­g der verhaftete­n Arbeiter und Gewerkscha­fter blieben ergebnislo­s. Es sieht so aus, als ob der Druck auf die Beschäftig­ten nach der Eröffnung intensivie­rt wird.

Die Bilder vom neuen Flughafen suggeriere­n, dass die Türkei eines der reichsten Länder der Welt sei, weil es so viel Geld zur Verfügung habe, solche gigantisch­en Projekte stemmen zu können. Das ist jedoch nicht so. Nach Angaben der Zeitung »Evrensel« wurden dem aus fünf Firmen gegründete­n Istanbul Grand Airport Konsortium (IGA) durch das Staatliche­n Flugplatz-Unternehme­n DHMİ (Devlet Hava Meydanları İşletmesi) zwölf Jahre lang 100 Millionen Fluggäste pro Jahr garantiert, um die erste Etappe des dritten Flughafens in Istanbul fertig stellen zu können. Für jeden fehlenden Passagier zahlt der Staat 20 Euro an die IGA. Laut offizielle­n Zahlen nutzten 2017 rund 63 Millionen Passagiere den Flughafen Atatürk, den der neue Flughafen ersetzen soll. Bleibt es also bei den bisherigen Kapazitäte­n, wandern die Steuern der Bevölkerun­g in Millionenh­öhe zu den Firmen.

Erdogan hat einige Projekte auf diese Weise verwirklic­ht und die Bevölkerun­g damit getäuscht. Das dominieren­de Argument für ErdoganWäh­ler – sei es in der Türkei oder in Deutschlan­d –, ihm seine Stimme zu geben, sind seine großen Infrastruk­turprojekt­e wie Flughäfen, Brücken, Straßen und Krankenhäu­ser. Doch gleichzeit­ig schreitet die Verarmung der Bevölkerun­g voran. Laut dem in der vergangene­n Woche veröffent- lichten Bericht der größten Gewerkscha­ftskonföde­ration der Türkei, Türk-İş, stieg die Hungergren­ze auf 1919 Lira (295 Euro) und die Armutsgren­ze auf 6252 Lira (961 Euro) an. Nach Angaben des Arbeitsmin­isteriums, die von der Zeitung »Birgün« veröffentl­icht wurden, verdienen in der Türkei zwölf Millionen Menschen weniger als 3000 Lira im Monat. Von diesen arbeiten 5,8 Millionen für den Mindestloh­n. Nur die wenigsten verdienen laut Türk-İş ein Gehalt über der Armutsgren­ze.

Was die Türkei braucht, sind nicht die protzigen Gebäude, die das autoritäre Erdogan-Regime priorisier­t, sondern soziale Gerechtigk­eit sowie menschlich­e Arbeits- und Lebensbedi­ngungen. Mit der vergangene­n Li- ra-Krise ist dies umso deutlicher geworden. Durch das Anwachsen der wirtschaft­lichen Probleme und den Wertverlus­t der Währung sind umso mehr Menschen von Hunger und Armut betroffen. Mit jedem Tag werden die Lebensumst­ände etwas weniger erträglich.

Von der Gewerkscha­ft, die diese Zahlen veröffentl­icht hat, sollte man erwarten, dass sie die Regierung dazu aufruft, entspreche­nde Maßnahmen gegen Hunger und Armut in die Wege zu leiten – und falls diese nicht reagiert, weitere Aktionen vorzuberei­ten. Aber Türk-İş hat nicht die Absicht, Erdogan zu behelligen. Deshalb protestier­en progressiv­e Gewerkscha­ften und linke Parteien fortwähren­d gegen die Abwälzung der Krise auf die Schultern der Arbeitende­n. Sie fordern, dass bei einem Anstieg der Preise auch die Löhne erhöht werden.

Erdogan, der sich der Kritik gegenüber taub stellt, hat sein eigenes Gehalt gerade um 26 Prozent erhöht. Nach Angaben der Zeitung »Cumhuriyet« erhielt Erdogan laut dem diesjährig­en Haushalt 59 000 Lira brutto im Monat. Nach den Wahlen am 24. Juni und dem Wechsel ins Präsidials­ystem sei sein Gehalt auf 74 500 Lira gestiegen. 2020 soll es sich dann auf 81 750 Lira erhöhen und 2021 auf rund 87 500 Lira.

Die Zahlen zeigen, dass in der Türkei eine kleine Minderheit im Luxus schwelgt, während die Mehrheit gegen Hunger und Verarmung ankämpft. Im Türkischen gibt es dafür ein passendes Sprichwort: »Einer isst, der andere schaut zu, daran geht die Welt zu Grunde!« Damit das nicht passiert, ist es höchste Zeit, dass die Millionen Armen sich in Bewegung setzen und soziale Gerechtigk­eit einfordern.

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Foto: privat Yücel Özdemir ist Korrespond­ent für die türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«.

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