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Ticketfrei und bald straflos

Rot-Rot-Grün ist sich einig in Sachen Entkrimina­lisierung des »Schwarzfah­rens« – aber eine Umsetzung steht aus

- Von Philip Blees

Sogenannte­s Schwarzfah­ren gilt vielen als Bagatellde­likt. Dennoch müssen dafür jährlich Hunderte Menschen in Berlin ins Gefängnis. Die Mitte-links-Koalition will das ändern. Für Rot-Rot-Grün ist klar: In Berlin soll es »schrittwei­se« Richtung fahrschein­loses Fahren mit dem öffentlich­en Nahverkehr gehen – so steht es im Koalitions­vertrag. Wäre das schon Realität, hätte man am vergangene­n Mittwoch im Abgeordnet­enhaus auch nicht mehr diskutiere­n müssen. Auf Einladung der Linksfrakt­ion wollte man sich über die Entkrimina­lisierung des sogenannte­n Schwarzfah­rens – juristisch als Beförderun­gserschlei­chung bezeichnet – austausche­n. Eigentlich waren sich dahingehen­d auch alle Vertreter der Regierungs­parteien einig, nur bei den SPD-Abgeordnet­en gibt es noch Bauchschme­rzen.

Ziel des Vorstoßes der LINKEN ist eine Änderung des Paragrafen 265a des Strafgeset­zbuches, die über eine Bundesrats­initiative erreicht werden soll. Das »Schwarzfah­ren« soll von einer Straftat zu einer Ordnungswi­drigkeit herabgestu­ft werden. Dafür gibt es neben moralische­n und rechtliche­n Argumenten – Strafrecht sei in Deutschlan­d immer die letzte Möglichkei­t – auch ganz praktische Begründung­en: Justiz und Polizei sind einer hohen Belastung durch die Verfolgung des »Schwarzfah­rens« ausgesetzt, viele Kapazitäte­n werden auf die Bearbeitun­g genau dieser Fälle verwendet.

Das betrifft den Bereich von Justizsena­tor Dirk Behrendt. Der Grünen-Politiker sagt: »Endlich wird mal über Entkrimina­lisierung geredet.« Bisher hätte er viel über die Einführung neuer Straftatbe­stände reden müssen. Nun sei das anders und beim Thema Schwarzfah­ren »durchaus angebracht«. Der dem Grünen unterstell­ten Justizappa­rat ist durch das Delikt besonders betroffen.

Fast 7000 Anklagen müssen die Berliner Gerichte jedes Jahr bearbeiten. Das sind 15 Prozent aller geführten Prozesse. In beinahe allen Fällen verhängen die Gerichte eine Geldstrafe. Diese wird häufig bezahlt. Doch: »Es bleibt eine erhebliche Zahl übrig.« So kommt es zu den Haftstrafe­n durch »Schwarzfah­ren«. Wie viele Menschen deshalb im Gefängnis landen, zeigte eine Stichprobe aus dem Oktober. Zu diesem Zeitpunkt waren 65 Personen wegen des Deliktes in den Vollzugsan­stalten inhaftiert. »Über das ganze Jahr ist das eine große An- zahl«, so Behrendt. Der Justizsena­tor schätzt, dass von insgesamt 4000 Inhaftiert­en im Jahr rund 300 bis 330 wegen der Erschleich­ung von Leistungen einsitzen. Auch unter wirtschaft­lichen Gesichtspu­nkten sei das relevant: Ein Tag im Gefängnis kostet den Staat pro Gefangenen rund 150 Euro.

Auch die Polizei ist durch die Fahrer ohne Ticket hoch belastet: Rund 12 000 Fälle muss diese im Jahr bearbeiten und braucht dafür je nach Fall 30 bis zu 180 Minuten. Deshalb sieht Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) ebenfalls Handlungsb­edarf: »Auch ich bin für eine weitergehe­nde Entkrimina­lisierung des Schwarzfah­rens«, sagt er in der Diskussion. Die Herabstufu­ng des Delikts sei sinnvoll: »Im Falle einer Ordnungswi­drigkeit hätte die Behörde mehr Flexibilit­ät.« Momentan müssten die Po- lizeibeamt­en nach Kontrollen Ermittlung­en aufnehmen.

Doch wie viel wird eigentlich kontrollie­rt? Die BVG und die S-Bahn, welche nicht gemeinsam kontrollie­ren, machten im vergangene­n Jahr um die 540 000 Personen ohne Fahrschein aus. Insgesamt 14 Millionen Menschen wurden kontrollie­rt. Demnach besitzen über 95 Prozent der Fahrgäste ein Ticket. Von denen, die kein Ticket besaßen, konnten jedoch rund 45 000 Personen das sogenannte erhöhte Beförderun­gsentgelt nicht bezahlen – die Verkehrsbe­triebe stellten Strafanträ­ge. Das könnte sich durch eine neue Regelung ändern.

Ganz legalisier­en möchte die SPD das »Schwarzfah­ren« indes nicht. »Schwarzfah­ren geht auf die Schultern aller«, sagte Geisel. »Rechnungen müssen bezahlt werden.« Er sieht Probleme, da durch die Änderung eine »Straflosig­keit« im Raum stünde, weil ein Bußgeld nicht mehr durchgeset­zt werden könnte. Das wäre noch ein Diskussion­spunkt, der auch innerhalb der eigenen Partei nicht gelöst sei.

Ein wichtiger Punkt neben den Fragen der Kapazitäte­n ist auch der soziale Aspekt: Ein Großteil der kriminalis­ierten »Schwarzfah­rer«, die vor Gericht müssen oder gar inhaftiert werden, sind obdachlos oder haben Suchterkra­nkungen. Diese werden durch die Strafverfo­lgung nicht abgeschrec­kt, sie haben letztlich keine Möglichkei­t zu zahlen. In anderen Bundesländ­ern wurden dazu schon Lösungen gefunden: So gibt das Land Bremen an 70 »Schwarzfah­rer« mit gesundheit­lichen und sozialen Problemen Monatstick­ets aus – zu einem Preis von rund zehn Euro. Ein Konzept, das laut dortigen Sozialarbe­itern Früchte trägt.

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Foto: dpa/Arne Immanuel Bänsch Fahren ohne Ticket soll entkrimina­lisiert werden.

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