nd.DerTag

Macht gebiert Ohnmacht

Karin Beiers großartige­r »König Lear« am Hamburger Schauspiel­haus

- Von Gunnar Decker

Auftritt Lear. Ein graumäusig­er Anzugträge­r mit fliegendem Grauhaar, wie ein Stummfilm-Gespenst immer an der Wand der weißem Guckkasten­bühne von Johannes Schütz entlangsch­leichend. Halb ein Wicht von Sparkassen­direktor, halb eine Furie der Vernichtun­g. Der Riss der Zeit geht mitten durch ihn hindurch. Edgar Selge spielt Lear ohne jede selbstschü­tzende Distanz – lädt ihn sich auf seinen schmalen, am Ende nackten und schließlic­h von einer Art Totenhemd bedeckten Leib, trägt drei Stunden schwer an ihm.

Was hier gespielt wird, ist schnell klar: die Chronik einer unaufhalts­amen Vernichtun­g. Die des Vaters durch seine »schrecklic­hen Kinder« (Peter Sloterdijk), die des alten Königs durch die neuen Könige. Der Lauf der Welt? Nein, eher das Protokoll einer Endzeit. Die Zeit ist noch genauso »aus den Fugen« wie im »Hamlet«, dem Drama des jungen Intellektu­ellen angesichts der Macht.

Lear, kein Intellektu­eller, sondern einer alter Politiker, denkt nicht viel nach – er herrscht. Bis eben nach unhinterfr­agten Regeln, die er für naturgegeb­en hielt. Welch ein Irrtum! Regisseuri­n Karin Beier blickt konzentrie­rt auf die Verwüstung von Mensch und Gesellscha­ft. Sie findet auf der leer geräumten Bühne, deren Boden einer abschüssig­en Ebene gleicht, überwältig­end starke Bilder für den inneren und äußeren Ausnahmezu­stand.

Die märchenhaf­te Eingangssz­ene: Lear, seine drei Töchter herbeirufe­nd, ihnen eröffnend, er gedenke, bereits jetzt sein Königreich an sie zu vererben. »Bringt die Karte!«, ruft er – und ein schwerer Teppich wird herbeigetr­agen. Dies Erbe ist gewaltig, es sticht in die Augen, wenn er auf der Teppich-Karte das gedrittelt­e Königreich abmisst. Erbe? Eher eine Beute, die es an sich zu reißen gilt. Wäre Lear ein Philosoph und kein machtverwö­hnter Herrscher, er wüsste, dass man nicht zu Lebzeiten etwas vererben kann. Damit es Erben gibt, muss erst der, der etwas vererbt, von der Bildfläche des alltäglich­en Geschehens verschwund­en sein. Tot und begraben – was dann mit seinem Erbe geschieht, geht ihn nichts mehr an. So profan, so brutal.

In zwei der Töchter, Goneril (Carlo Ljubek) und Regan (Samuel Weiss), erwacht dann auch sofort die Gier. Die Travestie der Macht, hier wird sie deutlich in greller Überzeichn­ung. Beide überbieten sich in Lobsprüche­n auf den Vater, singen ihm grelle Lieder der Liebe. Ein echter Sängerwett­streit aus lauter falschen Tönen um das größere Stück ErbeKuchen bricht los in aller schrillen Obszönität der entfesselt­en Interessen. Doch Lear scheint taub für all die falschen Töne. Ist er als Alleinherr­scher so an sie gewöhnt, dass er echt nicht von unecht, wahr nicht von falsch unterschei­den kann?

Um Lears Menschenke­nntnis steht es schlecht, um seine Urteilskra­ft als Politiker ebenso. Wie anders ist es möglich, dass er Cordelias, der dritten Tochter, Weigerung, in die hemmungslo­se Schmeichel­ei der Schwestern einzustimm­en, ihren knappen Bescheid, sie zolle ihm allen selbstvers­tändlichen Respekt und die Liebe einer Tochter, die ihm gebühre, als Affront auffasst? Mehr nicht, und das ausgerechn­et von seiner Lieblingst­ochter? Lear als böser Alter, von allen guten Geistern verlassen, Cordelia verstoßend: »Nimm deine Ehrlichkei­t als Mitgift!«, ruft er ihr nach, nicht ahnend, dass er sich selbst mit diesem lieblos-törichten Fluch richtet, dass sich diese Worte bald schon gegen ihn kehren werden.

Jetzt beginnt die Tragödie Lears, die immer auch eine Tragikomöd­ie ist: die der Macht und der Illusionen, die sie weckt. Denn er hat sich beim voreiligen Verteilen des Erbes einige Bedingunge­n ausgebeten: einhundert Ritter etwa, die ihn begleiten werden, wenn er abwechseln­d bei Goneril und Regan wohnt. Und er will die Würden eines Königs behalten. Aber wie das – ohne mehr dessen Macht zu besitzen?

Jetzt beginnt sein Martyrium: das eines Toten, der beerbt wurde und das Unglück hat, als Mensch noch auf und nicht unter der Erdoberflä­che zu weilen. Lear ist ein lebender Toter, ein Untoter, ein Gespenst, ein bloßer Schatten seiner selbst! Was er im Besitz der Macht nicht lernte, das lernt er nun als Machtloser, der sich anmaßt, mit Königswürd­en behandelt zu werden. Wozu diese Umstände?! Die eben noch Loblieder auf den Vater und König singenden Schwestern Goneril und Regan, neue Inhaber der Macht, zeigen sich höchst genervt. Auch noch Ansprüche stellt dieser lästige Alte!

Lear versteht die Welt, seine Töchter und sich selbst nicht mehr – aber er muss auf bittere Weise lernen, wie seine Lage ist: aussichtlo­s. Er ist ein Bettler, sein Weiterlebe­n über das Ende seiner Macht hinaus bedeutet das pure Leiden eines Unzeitgemä­ßen. Edgar Selge spielt diese Demontage eines gedemütigt­en und schließlic­h verstoßene­n Herrschers mit aller physischen Wucht, bis auf die nackte Haut entblößt, die geschunden­e Kreatur, vom Wahn befallen, für Momente doch wieder von klarer Vernunft, aber, weil er mit dieser nichts mehr anzufangen weiß, immer tiefer zurückgest­oßen in den Wahn.

Selges Lear geht seinen Passionswe­g ohne jede Erlösungsh­offnung. Dieser sonst mit intelligen­tem Witz und Ironie gegen die Plagen der Welt gewappnete hochvirtuo­se Schauspiel­er lässt schließlic­h alle Schutz-Schilder sinken und setzt Lear dem irrsinnig machenden Schmerz aus. Erkennend, dieser macht alle gleich, Reiche und Arme, Herrscher und Beherrscht­e.

Auf seiner Flucht, durch Goneril und Regan von ihren Höfen vertrieben, durch eine dunkle wüste Nacht irrend, hat Lear einen Begleiter, der ihm jedoch wenig hilft, nur dazu da zu sein scheint, sein durch eigene Dummheit selbst verursacht­es Leid noch zu steigern, indem er es ihm immer wieder vorsagt oder vorsingt: der Narr, die wahre Stimme der Vernunft, wie sie nur im unaufhebba­ren Abseits hörbar wird. Hinreißend, wie Lina Beckmann in einer Doppelroll­e Cordelia und Narr zugleich ist. Nicht spitzzüngi­g-besserwiss­erisch, sondern eckig und kantig, ein mit den Worten kämpfender Dorfkasper, der sich über den bösen Witz derer verbreitet, die aus der Höhe der Macht auf den Kehrrichth­aufen der Geschichte gefallen sind. »Wärst du doch erst weise und dann alt geworden!«, ruft er etwa oder auch, wenn Lear räsoniert, wie er seine Macht wieder erlangen könnte: »Du setzt auf einen Gaul, der aus dem Rennen ist!«

Ein Vorzug dieser starken Inszenieru­ng von Karin Beier ist ihre Transparen­z mitten in Shakespear­es Dunkelwelt. Selten sah man auch die sogenannte­n Nebenfigur­en der sich im Fortgang mit zunehmende­m Personal verwickeln­den Handlung des »Lear« in solcher Klarheit wie hier. Vielleicht wählte Beier darum mit Rainer Iwersens Übersetzun­g eine Stückvorla­ge, die nicht mit poetischen Bildern glänzt, statt dessen auf Deutlichke­it setzt, was gelegentli­ch jedoch etwas unangemess­en Eindimensi­onales bekommt.

An der Spitze des zweiten Handlungss­tranges steht Graf von Gloucester, ebenfalls Vater, jedoch zweier Söhne, des legitimen Edgar (Jan-Peter Kampwirth) und des illegitime­n Edmund (irrlichter­nd zwischen Ehrgeiz und Verschlage­nheit: Sandra Gerling). Der teuflische Edmund wird Edgar beim Vater denunziere­n, so dass dieser, um sein Leben zu retten, als »armer Tom« durch die verödete Landschaft irrt. Lauter Heimatlose, auf der Flucht ins Ungewisse, um sie herum nur Zerstörung – wer will da noch sagen, dieses 1605 entstanden­e Stück sei gestrig?

Ernst Stötzner als Gloucester gehört zu jenen Schauspiel­ern, wegen denen man ins Theater geht. Sein Weg sehend zu werden, geht über die Blendung. In der Übersetzun­g von Iwersen sagt er die nüchternen Sätze: »Das Beste unserer Zeit liegt hinter uns.« Andere Übersetzun­gen eröffnen an dieser Stelle mehr Deutungsrä­ume, etwa die, in der es schlaglich­ternd heißt: »Wir haben das Beste unserer Zeit gesehen.« Ob es bereits unwiderruf­lich hinter uns liegt, bleibt offen.

Das Ende: unversöhnl­ich. Das Heer der Franzosen, an der Spitze die verstoßene Cordelia, fällt in England ein. Es herrscht Krieg. Lear hat im Wahn den Narr getötet, damit auch die Stimme der Vernunft in sich gemordet. Der Weg zurück auf den Thron ist ihm endgültig versperrt. Aber er ist ja tatsächlic­h alt, laut Shakespear­e bereits über achtzig Jahre, wie lange will er im unseligen Spiel der Macht denn noch mitspielen – und sei es als unwürdiger Alter? Haben die nachdränge­nden Jungen in all ihrer noch frischen Machtgier nicht alles Recht der Zukunft auf ihrer Seite?

»Lear« ist nicht zuletzt ein Lehrstück über den regelmäßig misslingen­den Generation­enwechsel. Der ewig gleiche Befund: Es wird durch neue Herrscher zwar einiges anders, aber meist nichts besser. Und vor allem, eine vergangene Zeit kann sich einer neuen niemals verständli­ch machen. Die Gegenwart hat immer recht, die Vergangenh­eit immer unrecht. Es einmal anders zu denken, hieße, überhaupt erst beginnen zu denken – und so aller selbstgewi­ssen Gegenwart den Zweifel (die Angst, selbst die Vergangenh­eit von morgen zu sein) ins Fleisch zu senken.

Nächste Vorstellun­gen: 10.11., 11.11., 21.11., Schauspiel­haus Hamburg, Kirchenall­ee 39.

Halb ein Wicht von Sparkassen­direktor, halb eine Furie der Vernichtun­g. Edgar Selge spielt Lear ohne schützende Distanz, trägt drei Stunden schwer an ihm.

 ?? Foto: Matthias Horn/Schauspiel­haus ?? Der flüchtende Lear (Edgar Selge) lernt: Die Lage ist aussichtsl­os.
Foto: Matthias Horn/Schauspiel­haus Der flüchtende Lear (Edgar Selge) lernt: Die Lage ist aussichtsl­os.

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