Er lauschte ins Ererbte
Ein Prägender der DDR-Kunst: Zum Tod des Schauspielers Horst Schulze
Er kaperte nicht, er schnappte nicht zu, er überfiel nicht, er haute nicht drauf. Und nie wirkte Horst Schulze, als hätte er seine Rollen an den Augenblick verloren. Sein Maß, um im Schein des Spiels ganz manifest zu sein, war ein so ganz anderes: Würdevoll schwer, doch mit einer unvergleichlichen Erhabenheitsgrandezza, trug dieser Darsteller beglückt an etwas, das viele seiner jüngeren Kollegen gar nicht erst an sich heranlassen – an der Geschichtlichkeit einer Figur. Das also, was Künstler vor ihm schon investiert hatten an Herztextblut, an Textherzblut. Er spielte, indem er ins Ererbte lauschte. Ohne dass er posierte. Aber mit Lust auf einen Widerschein, darin er dann sein sehr Eigenes gespiegelt fand.
Wenn er auftrat, und er tat es bis ins hohe Alter vor allem mit Goethe, dann war das immer: Auftritt, kein Abschlendern, und es schuf sofort Platz für die Sprache, also für höhere Harmonie. Sprache bekam bei Schulze Gestalt und Melodie. Ein skrupulöser Literaturvertrauer. Den großen tragischen Figuren der Dramatik gab er Kontur und Licht und Luft und Platz und Energie, eine ganze Welt auf sich zu nehmen, sie zu zerbrechen oder an ihr zu zerbrechen. Unzerstörbar blieben sie in ihrer Aura, auch wenn sie im Drama zerstört wurden oder Verstörte waren (etwa der Instetten im TV-Film »Effi Briest«). Schulze bannte das Unmaß allen Elends und aller Verlassenheit in den Klang des höchsten, aber doch stets beherrschten Tons.
Dresdner Volksoper (Start als Bariton), Theater Zittau, Weimar, Schauspiel Dresden, Berliner Staatsoper, Metropoltheater: Schulze besaß ein aufgerichtetes Wesen, das Raum beanspruchte, als sei der eigens für ihn geschaffen. Was er so überzeugend beherrschte, vor allem auf der Bühne: jedes Wort, jeden Vers, jede Hebung und Senkung so natürlich wie artistisch unter Artikulationsspannung zu setzen. Ob er Hamlet war oder Wallenstein, Posa oder Franz Moor, Tasso oder Don Carlos, Mackie Messer oder Mephisto. Auch war er Papageno an der Staatsoper Unter den Linden, und er avancierte zur Legende als Henry Higgins in »My fair Lady«, am Berliner Metropoltheater.
Egal, was er spielte. Immer schien er sehr verborgen zu lächeln. Es war ein Überlegenheitslächeln: Erst kämen hier die Dichter und ihre Texte, dann erst käme die Hüpfburg Theater. Auf den ersten Blick schien es gar nicht so einleuchtend, dass ausgerechnet er sich das Kino und den Bildschirm so vielseitig, so ausdauernd eroberte. Schulze war kein Reißer, kein vordergründig Schillernder. Aber er bestach.
Er war bei der DEFA Karl Liebknecht in Günter Reischs »Solange Leben in mir ist« und »Trotz alledem!«, er gab im Fernsehen bei Regisseur Rudi Kurz die titelgebenden Kommunisten in »Hans Beimler, Kamerad« und »Ernst Schneller«. Das Erhabene im Dienste des Proletariats. Das kultursouverän Reservierte im Kampf gegen Faschismus und Krieg. Das Feine, Zerbrechliche in plebejischem Auftrag. Horst Schulze – geboren als Arbeitersohn, ausgebildet als Autoschlosser – war in den benannten Rollen der Fremde als Tribun, und irgendwie wirkt solche Besetzung im späten Nachhinein weit kühner, als sie vielleicht gedacht war, denn: Sie schuf Identifikation, aber ohne jede Anbiederung; da geschah Volksnähe ohne jede Volkstümelei, und die Liebe zur sogenannten großen Sache buhlte nicht mit pathetischem Putz.
Schulze kam den politischen Legenden nahe, weil er auf keinen Sockel stieg. Wo sie eh nie lebten und kämpften – und litten. So verkörperte er in »KLK an PTX – Die Rote Kapelle«, dem aufwändigen DEFAStreifen über die Widerstandsgrup- pe Schulze-Boysen/Harnack, den Antifaschisten Adam Kuckhoff: Wachheit und Würde. In wenigen Szenen der Kern einer Freiheit: Ein Mensch lehnt es ab, unbehelligt zu bleiben. Leben, dessen Gnadenlosigkeit einem aufgelegt wird – und wahre Ungebundenheit, indem man genau dies akzeptiert. So begegneten einander die menschliche Sehnsucht, sinnvoll zu existieren, und die Unmenschlichkeit, diesen Sinn einer brutalen, tödlichen Überforderung opfern zu müssen.
Lang ist die Liste seiner Filmrollen (»Bis dass der Tod euch scheidet«, »Wahlverwandtschaften«, »Levins Mühle«, »Märkische Forschungen«). Er prägte wesentlich das DEFA-Profil. Man erwartete als Zuschauer sein Mitspiel. Er bewies die Anziehungskraft des Bedachtsamen. Klug dosiert dann seine Überraschungskraft in Nebenrollen des biederlichen Bücklings, der plustrigen Rechthabe, des ungelenken Alltagsantihelden. Laut musste der Fein- und Charmespieler Schulze nie werden. Gefährlich und gefährdend wirken konnte er dagegen schon – er vermochte es, seine so bewährte Gediegenheit wunderbar ins glatt Verschlagene, ins fies Verfinsterte umzukneten, etwa an der Seite Rolf Hoppes im Indianerfilm »Weiße Wölfe«.
Von Goethe war schon die lobende Rede, da ist immer Schiller ganz nah – gern zitierte Schulze dessen Gedicht »Die Ideale«; darin wird die Rezeptur beschworen, die am Leben hält: Die Zeit schenkt uns Minuten, Tage, Jahre; wir stehen also in ihrer Schuld, die wir nur durch Arbeit und Tätigkeit abtragen können – und was erquickt demnach in all der beschlossnen Unerlösbarkeit unserer Erdenweile? »Beschäftigung, die nie ermattet,/ Die langsam schafft, doch nie zerstört.« Nun ist Horst Schulze, der 1921 Geborene, der viel und begeisternd Beschäftigte, im Alter von 97 Jahren gestorben.