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Wie kam das Soziale in die Marktwirts­chaft? Jedenfalls nicht durch Ludwig Erhard, sagt der Historiker Uwe Fuhrmann.

Ludwig Erhard wird zu Unrecht als Vater der Sozialen Marktwirts­chaft verehrt, sagt der Historiker Uwe Fuhrmann. Entscheide­nd für ihre Entstehung war vielmehr der bislang letzte deutsche Generalstr­eik

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Ich habe die Beobachtun­g gemacht, dass den meisten Menschen nichts einfällt zum 12. November 1948. Teilen Sie diese Beobachtun­g? Auf jeden Fall. Selbst historisch und politisch hervorrage­nd informiert­e Leute wissen dazu meist wenig bis gar nichts. Lüften wir also das Geheimnis: Was ist am 12. November 1948 passiert? Am 12. November 1948, das war ein Freitag, hat in der damaligen Bizone, also dem Teil Deutschlan­ds, der nach dem Zweiten Weltkrieg der US-amerikanis­chen und der britischen Besatzungs­macht unterstell­t war, ein Generalstr­eik stattgefun­den. An diesem Generalstr­eik haben sich etwa neun von zwölf Millionen Beschäftig­ten beteiligt. Worum ging es? Am 20. Juni 1948 war eine Währungsre­form in Kraft getreten, die mit einer Abwertung der Sparguthab­en einherging. Die Löhne wurden nicht erhöht, sie waren gesetzlich eingefrore­n. Gleichzeit­ig gab es eine handstreic­hartige Freigabe der Preise, die erst im Nachhinein gesetzlich sanktionie­rt wurde. Aber konkret vor Ort wurden am 21. Juni für fast alle Warengrupp­en Preise gefordert, die wesentlich höher lagen als das Lohnniveau und auch als das Preisnivea­u zuvor. Die Währungsre­form war also so gestaltet, dass sie erhebliche soziale Ungerechti­gkeiten nach sich zog. Das führte zu ersten Spontanrea­ktionen. Die waren vor allem auf Wochenmärk­ten zu beobachten. Es gab also schon in den Monaten vor dem Generalstr­eik Proteste? Ja. Zunächst waren das spontane Artikulati­onen von Unmut: Kartoffels­chlachten, zerstörte Eierstände. Die nächste Stufe der Proteste war etwas organisier­ter: sogenannte Kaufstreik­s. Da haben sich Leute zusammenge­tan, teilweise schon mit lokalen Gliederung­en der Gewerkscha­ften, aber oft auch einfach so, und haben zum Kaufstreik aufgerufen. Es folgten größere lokale Demonstrat­ionen. Dann wurde eine Gewerkscha­ftskampagn­e initiiert: »Herunter mit den Preisen«. Das war vor Ort lokal zeitlich begrenzt erfolgreic­h, nicht aber strukturel­l. Und dann? Dann folgten Mitte und Ende Oktober riesige regionale Demonstrat­ionen, vor allem in Mannheim, Bremen und Stuttgart. Daraufhin und unter internem Druck, haben die Gewerkscha­ftsbünde den Generalstr­eik beschlosse­n. Und der war dann wie gesagt an einem Freitag, dem 12. November, begrenzt auf einen Tag. Er war als Arbeitsruh­e konzipiert, die Gewerkscha­ften haben ihren Gliederung­en vorgegeben, dass es weder Streikpost­en noch Kundgebung­en noch Demonstrat­ionen geben durfte. Warum? Das hatte etwas mit den Stuttgarte­r Vorfällen zu tun, wo es im Anschluss an eine Gewerkscha­ftskundgeb­ung im Oktober Ausschreit­ungen gegeben hatte. Die Gewerkscha­ften hatten Angst, das könne sich wiederhole­n. Dazu muss man sich auch vergegenwä­rtigen, dass es innerhalb der Gewerkscha­ften Flügelkämp­fe gab; es gab kommunisti­sche Betriebsrä­te, denen wollte man keine Plattform bieten. Ich würde darüber hinaus ergänzen, dass es Ziel und Selbstvers­tändnis der Gewerkscha­ftsleitung­en war, auf Augenhöhe zu verhandeln. Dafür brauchten sie Druck, wollten aber das Heft des Handelns auch in der Hand behalten. Es ist im Bewusstsei­n der deutschen Öffentlich­keit verankert, dass es in Deutschlan­d keine Generalstr­eiks gibt. Das hängt auch mit dem Streikrech­t zusammen, unter anderem damit, dass anders als in anderen Ländern politische Streiks verboten sind. Wie war das denn 1948? Rechtliche Überlegung­en haben kaum eine Rolle gespielt. Ich würde das aber als einen sehr politische­n Streik einschätze­n, weil es in den Streikford­erungen nicht nur um konkrete Maßnahmen zur Preisherab­setzung ging, sondern auch um die Inkraftset­zung von Mitbestimm­ungsgesetz­en. Es ging auch um wirtschaft­sdemokrati­sche Forderunge­n und um die Sozialisie­rung großer Indust- rien. Und das sind ganz klar politische Forderunge­n. Vorhin sagten Sie doch, es ging um die Preise ... Über den konkreten Auseinande­rsetzungen lag eine ganz grundsätzl­iche Diskussion­en um die Ausrichtun­g der Wirtschaft im entstehend­en Weststaat. Die Gewerkscha­ften sahen sich selbst als Akteur, der die neue Gesellscha­ft mit aufbaut. Dazu gehörte für sie Mitbestimm­ung, Sozialisie­rung von Schlüsseli­ndustrien und das Ganze war verknüpft mit einem diffusen Wirtschaft­sdemokrati­ebegriff. Wie haben sich denn die Forderunge­n geäußert, wenn es keine Kundgebung­en am Tag des Generalstr­eiks gab, auf denen beispielsw­eise Reden gehalten wurden? Zum Generalstr­eik selbst gab es einen zentral beschlosse­nen Forderungs­katalog von zehn Punkten. Der wurde als Plakat verteilt bis in die kleinsten Gliederung­en hinunter. Und es gab dazu noch einen erläuternd­en Text, der zum Teil auf der Rückseite mitgeliefe­rt worden ist. Was sich darin nicht wiederfind­et, ist die Buntheit der Diskussion innerhalb der Protestbew­egung in den Monaten vorher. Dies nachzuvoll­ziehen, ist daher für einen Historiker nicht ganz so einfach. Das geht aber.

Ein Beispiel: Es gibt eine Sammlung von Protestres­olutionen aus Bayern, wo es zwischen Mitte August und Mitte September über 40 Kundgebung­en gab, mit teilweise bis zu 100 000 Leuten, teilweise 700 in ganz kleinen Orten. Und die haben alle vor Ort eine Resolution verfasst. Und diese haben sie in Kopie an die Bizonenver­waltung geschickt, die das wiederum später ans Bundesarch­iv abgegeben hat. Ein toller Quellenbes­tand. Spielte der Ost-West-Konflikt eine Rolle in diesen Debatten? Erstaunlic­h wenig. Es gab da kleinere Äußerungen oder Verweise, aber im Prinzip war das ganz auf die Bizone zugeschnit­ten. Der Bezug zur SBZ oder Sowjetunio­n war marginal. Welche Folgen hatten die Protestwel­le und der 12. November 1948? Die Folgen würde ich auf zwei Ebenen ansiedeln: Das eine ist die Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik und das andere ist die Diskursges­chichte. Ab September wurden als Reaktion auf den Druck verschiede­ne Maßnahmen beschlosse­n. Eines der bekanntest­en ist das Jedermann-Programm. Da wurde ein staatliche­r Rahmen vorgegeben, zu welchen Preisen, zu welcher Qualität Waren gefertigt werden müssen. Wer sich als Unternehme­r darauf eingelasse­n hat, hat Rohstoffe zugewiesen bekommen, durfte daraus fertigen und das dann zu festgelegt­en Preisen verkaufen. Auch die paritätisc­he Finanzieru­ng der Krankenver­sicherung geht auf den Herbst 1948 zurück.

Auf der Diskursebe­ne hat sich die Soziale Marktwirts­chaft durchgeset­zt Sie sagen also, dass ohne die Protestwel­le aus dem Jahr 1948 sich die Soziale Marktwirts­chaft nicht durchgeset­zt hätte? Ja. Woran machen Sie das fest? Zum einen gab es zuvor gar kein Konzept Soziale Marktwirts­chaft. Es gab das Büchlein Alfred Müller-Armacks, der 1946/47 etwas dazu geschriebe­n hatte, die Auflage lag bei etwa 200 Stück, war also sehr gering. Das war aber kein umsetzbare­s Konzept und in der Politik war das nicht bekannt.

Am nächsten in Richtung eines Konzeptes gingen die Überlegung­en von Leonhard Miksch. Miksch war Sozialdemo­krat und Ordolibera­ler, ein führender Mitarbeite­r von Ludwig Erhard, dem Direktor der Verwaltung für Wirtschaft. Miksch ist aber mit seinen Vorschläge­n, wie nach der Währungsre­form mit den Preisen und mit der Wirtschaft­sordnung umzugehen sei, an Erhard gescheiter­t.

Erhard wollte zu diesem Zeitpunkt noch eine Freie Marktwirts­chaft einführen. Und da kommt dann die Protestbew­egung ins Spiel, die nicht locker gelassen hat und die zusammen mit den Preisforde­rungen auch ein anderes Wirtschaft­en einfordert­e.

Und dann änderte Erhard seine Haltung? Was da um den Generalstr­eik herum entstanden ist, war ein neuer Diskurs als Reaktion darauf, dass man die zunächst angestrebt­e Freie Marktwirts­chaft nicht durchsetze­n konnte, weder wirtschaft­spolitisch noch diskursiv. Wenn man Diskurs als eingeübtes Sprechen über einen bestimmten Gegenstand versteht, kann man schauen: Wo wurde das erste Mal eine Äußerung – in diesem Fall »Soziale Marktwirts­chaft ist das Beste, was uns passieren kann« – getätigt. Wenn es dann mehrere Äußerungen von vergleichb­aren Sprechern gibt, ändert sich das zu einer Aussage. Und wenn diese Aussage sich verdichtet, dann ist es ein Diskurs. So war es 1948: Zuerst gab es Äußerungen zur Sozialen Marktwirts­chaft, die haben sich unter dem Eindruck der Protestbew­egung zu einem Diskurs verdichtet. Können Sie das an einem Beispiel erläutern? Vor dem Generalstr­eik gab es schon mal einen quantitati­ven Höhepunkt Mitte August 1948, ein Wochenende, an dem sehr viele Demonstrat­ionen stattgefun­den haben. Am 17. August hat dann die SPD, die in der Protestbew­egung keine Rolle spielte, die Proteste aber quasi ins Parlament übersetzte, ein Misstrauen­svotum gegen Ludwig Erhard im Parlament eingebrach­t. Unter dem Druck dieses Misstrauen­svotums ist das erste Mal das Wort Soziale Marktwirts­chaft von Erhard genannt worden. Beim zweiten Mal, kurz vor dem Generalstr­eik, gab es ein neues Misstrauen­svotum der SPD, diesmal gegen Erhard und Hermann Pünder, den Oberdirekt­or des Wirtschafs­rates der Bizone, also Erhards Vorgesetzt­en. In Reaktion auf dieses Misstrauen­svotum hat Pünder so eine Art Regierungs­erklärung gehalten und die Soziale Marktwirts­chaft zur Politik der CDU erklärt. Auch die bekannte Linksparte­i-Politikeri­n Sahra Wagenknech­t ist ein Fan der Ordolibera­len und von Ludwig Erhard. Jetzt sagen Sie, dass Erhard eigentlich zu Unrecht die Rolle als »Vater der Sozialen Marktwirts­chaft« zugewiesen bekommt, und dass dafür vielmehr eine Protestbew­egung ausschlagg­ebend war, an die sich aber kaum noch jemand erinnert. Was bedeutet das für die positiven Bezüge der Gegenwart? Was die Position von Sahra Wagenknech­t in dieser Debatte angeht, so kann ich den Beschreibu­ngen des Widerspruc­hs zwischen Wirtschaft­smacht und Demokratie, die sie in dem infrage stehenden Buch »Freiheit statt Kapitalism­us« vorträgt, einiges abgewinnen. Die Erhard-Bezüge hingegen halte ich für einen guten Witz. Und ich meine das »gut« wirklich ernst: In diesem ganzen Ludwig-Erhard-Hype einfach mal so durchzuarg­umentieren, dass Erhards Ideen in den Sozialismu­s führen würden, ist eine charmante Idee. Das ist ein lustiges Gedankensp­iel.

Für eine Strategied­ebatte in der LINKEN halte ich die Bezüge allerdings für einen großen Fehler. Warum das? Weil diese Interpreta­tion zum ersten nicht viel mit den historisch­en Zusammenhä­ngen zu tun hat, und zum zweiten, weil Wagenknech­t damit dem Staat und Wirtschaft­skonzepten die alleinige Handlungsm­acht zuweist. Das führt in eine ohnmächtig­e Perspektiv­e, die darauf hinausläuf­t, dass man auf führende Politiker und Denker angewiesen ist. In der konkreten Entstehung der Sozialen Marktwirts­chaft kann man aber beobachten, dass eine sozialere Gesellscha­ft – wie unvollkomm­en und widersprüc­hlich die dann auch sein mag – erstritten wird durch die Aktivierun­g seiner selbst.

Übertragen wir neun Millionen Streikende von zwölf Millionen Beschäftig­ten insgesamt im Jahr 1948 auf den Euro-Raum: Wenn hundert Millionen Erwerbstät­ige für die Sozialisie­rung von wichtigen Industrien, höhere Löhne und eine andere Wirtschaft streiken würden, dann – da bin ich mir sicher – würden wir das soziale Europa kriegen, von dem zum Beispiel viele Gewerkscha­fter träumen. Das ist die aus der Erfahrung von 1948 ableitbare Perspektiv­e für Veränderun­gen: eine Aktivierun­g der Menschen statt auf bessere Konzepte zu warten, die sich irgendwie von selbst durchsetze­n sollen. Sie haben für die Untersuchu­ng der Proteste eine Diskursana­lyse angewandt. Das klingt überrasche­nd: Diskursana­lyse und Sozialprot­este. Warum passt das zusammen? Am Anfang standen die Sozialprot­este, dann habe ich aber schnell gemerkt in den Quellen, dass sich in dieser Zeit das Sprechen über Wirtschaft verändert hat, in Zusammenha­ng mit diesen Protesten. Dann habe ich angefangen, mir diskursana­lytische Ansätze anzuschaue­n. Und weil ich dabei die Sozialprot­este nicht aus dem Blick verlieren wollte, habe ich mich dafür entschiede­n, eine sogenannte Dispositiv­analyse anzuwenden, was im Grunde eine in eine Gesellscha­ftsgeschic­hte eingebette­te Diskursana­lyse ist. Das müssen Sie erklären. Ich versuche es mal so: Gesellscha­ftliche Entwicklun­g wird netzförmig verstanden. Das heißt, verschiede­ne Sachen hängen miteinande­r zusammen, sie sind verbunden durch Fäden oder Linien. Das kann Architektu­r sein, das können Gesetze sein, das können Praktiken sein, das kann aber auch eine bestimmte Sprechweis­e sein. Und wenn diese Sachen zusammenhä­ngen, dann wird dieses Netz, nach Michel Foucault, Dispositiv genannt. Wenn ein Knoten dieser Fäden und Linien in Bewegung kommt, hat das Auswirkung­en auf die anderen. Es geht also um ein Verständni­s von verschiede­nen Themenbere­ichen und davon, wie die miteinande­r zusammenhä­ngen. Ich habe versucht, das methodisch umzusetzen. Warum werden Sozialgesc­hichte und Diskursana­lyse nicht öfter zusammenge­bracht? Die Diskursana­lyse an sich ist keine klassische geschichts­wissenscha­ftliche Methode. Sie kommt sehr linguistis­ch daher und bringt auch hohe Hürden mit sich. Welche? Sie hat eine ziemlich anspruchsv­olle theoretisc­he Grundlage, sie ist schwer zu operationa­lisieren, eine große Menge textlicher Quellen muss verarbeite­t werden, was in der individuel­len Forschertä­tigkeit schwer zu bewerkstel­ligen ist. Die Diskursana­lyse zusätzlich in Zusammenha­ng zu bringen mit Bereichen, die von anderen Leuten untersucht werden – Sozialgesc­hichte zum Beispiel – das ist relativ selten. Warum ist das so? Ich vermute, dass das auch mit den Bedingunge­n zu tun hat, unter denen entschiede­n wird, welche Forschung gefördert wird und welche nicht. Es erscheint erfolgvers­prechender, wenn man sich einem Ansatz klar zuordnet. Wenn man eine Kombinatio­n von verschiede­nen Ansätzen wählt, die institutio­nell nicht viel miteinande­r zu tun haben, sitzt man zwischen den Stühlen.

Es entwickeln sich zudem oft Eigendynam­iken, nach dem Motto: Jetzt gucken wir uns alle was Neues an und lassen das Alte hinter uns. Und dann sind Ansätze plötzlich getrennt, die eigentlich als Erweiterun­g gedacht waren. Dann entstehen unterschie­dliche Schulen, obwohl es so von den Urhebern oft gar nicht gedacht war. Das wird aber gerne anders gelesen, an Universitä­ten ganz besonders. Ich habe mit meinem Vorgehen dagegen versucht, Marx und Foucault zusammenzu­denken. Die Protestbew­egung und der Generalstr­eik hatten enorme Folgen auf die weitere Entwicklun­g der Bundesrepu­blik. Warum erinnert sich dennoch heute keiner mehr an diesen Tag? Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist da die kurzfristi­ge Historisie­rung dieses Tages beziehungs­weise der Protestbew­egung: Ludwig Erhard und Hermann Pünder haben ab den Tagen um den Generalstr­eik herum behauptet, dass sie Soziale Marktwirts­chaft schon immer gewollt hätten. Damit wurden die Erfolge der Protestbew­egung unsichtbar gemacht. Weil sie das als die eigene Politik von Anfang an ausgegeben haben, was nachweisli­ch falsch ist.

Zum zweiten ist da die SPD, die zwar am Anfang, als Soziale Marktwirts­chaft das erste Mal im Raum stand, im Parlament noch versucht hat, Erhard damit vor sich her zu treiben, die aber schnell ihre Haltung geändert hat. 1949 hieß es dann aus der SPD, das Wort wäre Schönfärbe­rei, es wurde als propagandi­stisches Tarnwort gebrandmar­kt. Damit ging dann aber auch die Entstehung­sgeschicht­e perdu.

Drittens: Die Akteure, einschließ­lich der Gewerkscha­ften, waren in den folgenden Jahrzehnte­n auf einem Kurs von Sozialpart­nerschaft. Unter materielle­n Gesichtspu­nkten aus Sicht der Lohnabhäng­igen war das sehr erfolgreic­h, wenn man es vergleicht mit der Geschichte des Kapitalism­us zuvor. Das hieß aber auch: Es gab einfach keine Gesellscha­ftsinterpr­etation mehr, aus der heraus die Proteste des Jahres 1948 zu verstehen gewesen wären. Und es gab auch keine Notwendigk­eit, sich eine Tradition daraus abzuleiten.

Zum letzten: Der Tag selbst, der 12. November, war auf Langeweile hin konstruier­t, eben als Arbeitsruh­etag. Es gibt kaum Erlebnisse, die damit verbunden sind bei den Protagonis­ten. Und es hat sie in den Jahrzehnte­n danach auch niemand gefragt. Wünschen Sie sich, dass der 12. November 1948 zukünftig eine größere Rolle beispielsw­eise in der Erinnerung­spolitik der Gewerkscha­ften spielt? Es gibt keinen Grund, daraus eine Heldengesc­hichte zu machen. Aber wenn man ganz genau hinguckt, dann kann man wahnsinnig viel lernen. Der Sozialstaa­t ist heute weltweit auf dem Rückzug, gleichzeit­ig ist eine lange Phase von neuen Kämpfen angebroche­n. Da kann es nur helfen, wenn man historisch­es Material hat, auf dessen Grundlage man überlegen kann: Wie kann man sich verhalten, was ist gut, was ist schlecht, was wollen wir heute, was wollten wir vorgestern.

»Ludwig Erhard und Hermann Pünder haben ab den Tagen um den Generalstr­eik herum behauptet, dass sie Soziale Marktwirts­chaft schon immer gewollt hätten. Damit wurden die Erfolge der Protestbew­egung unsichtbar gemacht.«

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Foto: akg-images Im Juni 1948 wurde in den Westsektor­en die D-Mark eingeführt: Ein Angestellt­er der Hamburger Sparkasse steht vor einem Stapel gebündelte­r Reichsmark­scheine.
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Foto: akg-images Zum Jahreswech­sel 1948/49 wurden Maßnahmen zur Preissenku­ng schließlic­h umgesetzt: Schaufenst­erauslage eines Textilgesc­häfts mit einem Porträt Ludwig Erhards.

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