nd.DerTag

Roland Orlando Moed

»Unfreiheit, süße« – preisgekrö­nt mit einem Literaturp­reis für Gefangene

- Von Roland Orlando Moed

Persönlich­e Freiheit wird überbewert­et. Schutz der Persönlich­keit? Was soll das? Natürlich soll jeder sehen, wer man ist, was der Einzelne macht und vor alles, was man hat. Das ist gut so. Jedes Selfie, jedes Posting auf Facebook, Twitter, Instagram oder einem anderen sozialen Netzwerk bezeugt, dass man lebt. Und dazugehört. Gesehen und gehört zu werden, ist wichtig. Was braucht man da einen Persönlich­keitsschut­z oder Freiheit? Am besten ist es doch, sich so zu verhalten wie alle anderen. Dann hat man seine Ruhe, seine persönlich­e Ruhe. Und mit den vielen Kameras, den vielen Livestream­s muss man heute noch nicht einmal vor die Türe und kann dennoch am Weltgesche­hen teilnehmen. Zu Hause ist es ja immer noch am schönsten. Und am besten. Es ist doch alles aufs Beste geregelt. Was wäre es doch anstrengen­d und mühsam, würde man als Kämpfer für die Freiheit an Demonstrat­ionen oder anderen Veranstalt­ungen teilnehmen – wie anstrengen­d wäre das denn? Nirgends wäre es sicher, ständig muss man sich in Acht nehmen, permanent im Kampfmodus, in der ständigen Gefahr, gegen ein Gesetz zu verstoßen und dann erwischt zu werden.

(…)

Noch besser ist es, dass man auch in der Nacht einkaufen gehen kann. Jedes Mal ist es ein geiles Gefühl, mit Tüten voller Klamotten aus dem Geschäft zu kommen und noch am Eingang den coolen Einkauf zu posten. Will sagen: Ich gehöre dazu. Das Logo des Geschäfts muss natürlich mit auf das Foto, das ist wichtig. Klar doch. Auch mitten in der Nacht. Das ist sogar besser. All die Schlafmütz­en sehen so am Morgen beim Frühstück, was ich mitten in der Nacht gemacht habe. Während sie geschlafen haben. Vielleicht habe ich ja in der Nacht noch so ein tolles einsames Herz aufgegabel­t, das ist dann die Krönung. Das muss natürlich gleich gepostet werden.

(…)

Technik ist geil. Macht alles so einfach. Alles ist geregelt. Das Handy kontrollie­rt alles. Sogar mein Kühlschran­k spricht mit mir. Meine Heizung auch. Irre. Ich muss noch nicht einmal überlegen, was ich einkaufen muss. Kommt alles auf das Handy. Sobald ich im Supermarkt bin, zeigt mir die App, was im Kühlschran­k fehlt. Das Handy weiß auch, wo das gesuchte Produkt im Regal steht. Meine Heizung schaltet sich automatisc­h ab, wenn ich nicht zu Hause bin. Das spart Energie und trägt zum Umweltschu­tz bei. Und das, ohne dass ich mir überhaupt Gedanken über den Umweltschu­tz gemacht habe. Ich gehöre dazu. Soll mir noch einmal einer sagen, die Vernetzung wäre nur zum Nachteil des Einzelnen. Im Gegenteil. Die Vernetzung hilft uns, unsere Erde zu erhalten. Alles wird besser aufeinande­r abgestimmt. Wenn also der Kühlschran­k weiß, was ich in Zukunft so esse, dann wissen die Produzente­n auch in Zukunft, welche Produkte sie wann bereitstel­len müssen. Das gibt Planungssi­cherheit. Jeder Landwirt weiß in Zukunft, wie viel Kühe gebraucht werden, wie viel Milch sie geben können und müssen. Das erleichter­t vieles. Die Bank weiß dann auch im Voraus, wer wann wie viel Geld braucht. Wenn dann auch noch die Autos vernetzt sind, dann können die Autos auch gleich die Straßensch­äden melden. Die Ampelschal­tungen können synchronis­iert werden und der Verkehrsfl­uss wird optimal gesteuert. Das spart nicht nur Energie, sondern schont auch noch die Umwelt. Und das alles, ohne dass wir uns Gedanken darüber machen müssen. Läuft alles fast automatisc­h. Ist alles aufeinande­r abgestimmt. Sogar mein Biorhythmu­s ist angeschlos­sen. Super. Einfach ideal. Sich keine Gedanken machen zu müssen. Zeit für andere Dinge zu haben. Für Dinge, die Spaß machen. Sich Gedanken zu machen, ist auf Dauer ja auch anstrengen­d. Wenn dann noch was dazwischen­kommt. Ein Anruf, eine SMS. Dann ist der Gedanke weg. Denken ist letztlich nur Zeitversch­wendung. Und unsicher dazu.

Überhaupt ist alles so schön schnell, glatt und so hell. Sogar die Kunst. Die Skulpturen von Jeff Koons. Wie früher von Henry Moore. Das ist schön, da tut man sich nicht weh, wenn man sie anfasst und darüberstr­eichelt. Es gibt ja auch Kunst aus Stacheldra­ht und Glasscherb­en vom Moed. Die will man ja nicht anfassen. Da fehlt dann etwas am Erleben. Also Anfassen ist schon wichtig. Am besten so glatt wie mein Touchscree­n. Das bin ich gewohnt.

Dazu passt es, dass alles so schön hell ist. Licht ist gut. Erhöht die Sicherheit. Es gibt einfach zu viele die im Schutz der Dunkelheit klauen und so. Wenn alles taghell wäre, passiert bestimmt weniger. Außerdem kann man dann mehr auf den Kameras entdecken. Wäre ja auch besser, wenn man die Kameras auf den Bahnsteige­n auf dem Boden installier­en würde. Dann würde man die Gesichter all der Kapuzenpul­liträger besser erkennen. Überhaupt, wenn sich unsere Welt doch immer mehr ins Virtuelle hinüberret­tet, brauchen wir keine Freiheit mehr. Jedenfalls ist dann die Vorstellun­g von Freiheit eine andere. Die physische Freiheit kann dann ohne Probleme eingeschrä­nkt werden. Hauptsache, ich bin online. Die Freiheit wandelt sich eben. Ist doch normal. Im virtuellen Raum kann ich an der Freiheit teilnehmen, selbst wenn ich im Gefängnis sitzen würde oder in meiner Wohnung. Es wäre kein Unterschie­d mehr. In Zukunft gibt es bestimmt keine Gefängniss­e mehr. Die Strafe ist dann offline sein. Kein Bezahlen mit dem Handy, kein Kühlschran­k, der mir sagt, was ich einkaufen muss. Niemand, der an meinem Leben teilnimmt. Keine Likes, die ich bekomme. Like-Entzug. Offline sein, das wäre eine Hammer-Strafe!

Also ist es besser, sich an die Regeln zu halten. Kommt ja eh raus, so wie schon heute alles überwacht wird. Ob ich Angst habe? Ja, schon. Manchmal wird einem unheimlich, zu wissen, dass alles überwacht wird. Dann stellt sich aber gleich das Gefühl von Sicherheit ein. Wenn ich überwacht werde, dann werden auch alle anderen überwacht. Es geht in Zukunft niemand mehr verloren. Selbst Kinder, die von zu Hause ausreißen, können gleich wiedergefu­nden werden. Also wenn ich es recht bedenke, dann ist die Überwachun­g doch das kleinere Übel. Der Nutzen überwiegt. Wenn meine Wohnung voll vernetzt ist. Wenn sogar irgendwann einmal alle Fingerabdr­ücke von mir und meinen Freunden, also den physischen, die mich wirklich einmal besuchen kommen, oder Familienmi­tgliedern gespeicher­t sind und alle Daten bei der Polizei auf dem Server in der Cloud liegen, dann hat der Einbrecher keine Chance. Selbst wenn er Handschuhe trägt. Dann weiß die Polizei, dass er ein Einbrecher ist, und kann ihn sofort verhaften. Also auf frischer Tat. Leugnen ist da zwecklos. Erleichter­t der Polizei ja auch die Arbeit. Dasselbe mit den Autos. Auch hier ist stehlen zwecklos. Selbst wenn der Autodieb es schafft, das Auto zu klauen, ist entweder die Wegfahrspe­rre aktiv, und selbst wenn er die ausschalte­n kann, kann das Auto immer noch geortet werden und wird sofort gefunden. Oder wenn er die Ortung ausschalte­t, fällt das Auto auf, weil es nicht geortet werden kann. Dann kann es die Polizei sofort aus dem Verkehr ziehen. Einfach genial! Auch hier ist Leugnen zwecklos. Also wenn ich es recht überlege, dann ist die Überwachun­g absolut sinnvoll und erhöht unsere Sicherheit. Es ist also nicht so, dass mehr Kontrollen auch einen Verlust an Vertrauen bedeuten. Im Gegenteil, wenn alle überwacht werden, kann ich mehr Vertrauen haben. Mir geschieht nichts. Mit den vielen Kameras kann ich ja schon sehen, was mich erwartet. Ich kann ja jede Straße vorher einsehen. Im Grunde verändert sich dann auch die Zeit. Jedenfalls der Augenblick. Das »Jetzt« wird um den Zeitraum verlängert, den ich einsehen kann. Wenn ich also am Anfang der Straße schon sehe, was mich am Ende erwartet, wenn ich jede Überraschu­ng, was ich dort sehen und erleben kann, bereits am Anfang weiß, dann ist die Unsicherhe­it ausgeschal­tet. Keine Überraschu­ngen mehr. Das ist schön. Kleine Kinder suchen ihre Ostereier mit der Oster-App. Was in den Geschenken ist, weiß ich schon vorher. Die Welt, wenn sie denn einmal vollständi­g verappt ist, ist einfach leichter zu händeln. Ich muss keine Angst mehr haben. (...)

Noch besser aber wird es, wenn alle Haushalte vernetzt sind. Dann kann der morgendlic­he Urinstrahl direkt medizinisc­h ausgewerte­t werden. Zusammen mit den Daten der vergangene­n Nacht landen sie direkt auf dem Server des Arztes, und bereits im Frühstadiu­m können die entspreche­nden Maßnahmen ergriffen werden. Durch die direkte Verbindung zum Arzt gibt es auch keine Wartezeit. Die Apotheke bekommt eine Meldung, welches Medikament verschrieb­en wurde, der Lieferant wird sogleich in Gang gesetzt. Das Auto fährt selbststän­dig sofort zur Apotheke, und auf der Fahrt ins Büro können die Medikament­e auch gleich eingenomme­n werden. Die Kollegen wissen bereits, mit welcher Krankheit und Laune man ins Büro kommt, und können sich darauf einstellen. Wer nicht auf seine App schaut, ist entweder selbst schuld oder ein Kriminelle­r und mit einer OfflineStr­afe belegt. Auf solche Kollegen können wir gerne verzichten.

Im zweiten Schritt wird natürlich die Fehlerquel­le Mensch eliminiert. Alle Arbeitsplä­tze werden dahingehen­d überprüft. Kommen Fehler vor, werden die Mitarbeite­r durch entspreche­nde Roboter ersetzt. Das erhöht die

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Foto: dpa/Sebastian Gollnow

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