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Jérôme Lombard

RIAS sammelt Daten über Antisemiti­smus

- Von Jérôme Lombard

Diesen Tag wird Benjamin Steinitz so schnell nicht vergessen: »Wir haben da einen großen Meilenstei­n erreicht«, sagt der Leiter der Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus (RIAS) in Berlin. Am 31. Oktober wurde die Gründungsu­rkunde für einen Verein zur bundesweit­en Koordinier­ung von Meldestell­en judenfeind­licher Vorfälle unterschri­eben. »Ziel des neuen Bundesverb­andes ist die Sicherstel­lung einer bundeseinh­eitlichen und zivilgesel­lschaftlic­hen Erfassung von antisemiti­schen Vorfällen«, sagt Steinitz. Man wolle mit dem neuen Meldesyste­m auch Vorkommnis­se erfassen, die keinen Straftatbe­stand erfüllten und solche, die nicht mit direkter Gewalt verbunden seien. »Die Polizeista­tistiken weisen hier blinde Flecken auf«, erläutert Steinitz.

RIAS nimmt Meldungen über Judenhass aus der Zivilgesel­lschaft auf, geht ihnen nach und dokumentie­rt sie. Bei Bedarf werden Betroffene an Opferberat­ungsstelle­n vermittelt. Neben RIAS-Leiter Steinitz gehören auch der Geschäftsf­ührer des Zentralrat­s der Juden, Daniel Botmann, sowie die stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin des Vereins für demokratis­che Kultur in Berlin (VDK), Anne Benzing, dem Vorstand des neuen Bundesverb­andes RIAS an. Dieser wird für zwei Jahre gewählt. Der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Felix Klein, soll Schirmherr des Vereins werden. Das Bundesfami­lienminist­erium beteiligt sich an der Finanzieru­ng der Meldestell­en. In Brandenbur­g und Bayern haben sich bereits regionale Dokumentat­ionsstelle­n für antisemiti­sche Vorfälle gegründet. In den anderen Bundesländ­ern laufen derzeit die Gespräche mit Kooperatio­nspartnern, so Steinitz.

Zentralrat­sgeschäfts­führer Daniel Botmann sagt, dass die Einführung einer bundesweit­en Meldestell­e ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Antisemiti­smus sei. »Die offizielle­n Statistike­n spiegeln nicht die Wahrnehmun­gen innerhalb der jüdischen Community wider«, so Botmann. Mit RIAS habe man einen kompetente­n Partner an der Seite, der auf Bundeseben­e noch stärker als zivilgesel­lschaftlic­hes Sprachrohr für die Perspektiv­en der von Antisemiti­smus Betroffene­n auftreten könne. »Unsere Aufgabe als Zentralrat ist es, in den Gemeinden für die neue Meldestell­e zu werben.«

Für das Jahr 2017 zählte die Polizeilic­he Kriminalst­atistik (PKS) 1453 antisemiti­sche Straftaten in Deutschlan­d. Die Täter wurden zu 90 Prozent dem rechtsextr­emen Spektrum zugeordnet. RIAS kritisiert, dass diese Zahlen nicht das Ausmaß antisemiti­scher Vorfälle in Deutschlan­d widerspieg­eln. »Viele Juden zeigen antisemiti­sche Straftaten nicht bei der Polizei an, weil sie resigniert haben«, erklärt Steinitz. Zudem sei die Zuordnung von Delikt und Täter häufig fragwürdig.

Damit in der PKS ein Vorfall als antisemiti­sch aufgeführt wird, müssen die zuständige­n Polizeibea­mten bei der Feststellu­ng der Tat diese als antisemiti­sch definieren. Doch genau hier liegt das Problem: »Leider wird Antisemiti­smus als Motiv häufig nicht erkannt«, sagt Steinitz. Wenn die antisemiti­sche Motivation erkannt wird, werden der oder die Täter entspreche­nd der Ermittlung­en als »rechts«, »links« oder in die Rubriken »ausländisc­he Ideologien« beziehungs­weise »religiöse Ideologien« eingeordne­t. Bleiben die Täter unbekannt, ordnet die Polizei den Vorfall der Tätergrupp­e »rechts« zu. Zu welchen Verwirrung­en diese Praxis führen kann, zeigt ein Beispiel: Im Sommer 2014 gab die Polizei »Sieg Heil«-Parolen, die von Unterstütz­ern des iranischen Regimes während der israelfein­dlichen Al-Quds-Demonstrat­ion in Berlin gerufen wurden, als rechtsextr­eme Straftaten an. Auch aus anderen Bundesländ­ern liegen RIAS Fälle vor, bei denen die Zuordnung in die Tätergrupp­e »rechts« zweifelhaf­t erscheint. »Dass der Antisemiti­smus mit seinen unterschie­dlichen ideologisc­hen Ausprägung­en von der Polizei und auch von der Öffentlich­keit nicht erkannt wird, ist eins der Hauptprobl­eme bei der Bekämpfung von Judenhass«, sagt Steinitz.

RIAS legt seinen Statistike­n und Recherchen die vollständi­ge Arbeitsdef­inition Antisemiti­smus der Internatio­nal Holocaust Remembranc­e Alliance (IHRA) zugrunde, die israelbezo­genen Antisemiti­smus ebenso wie klassische antisemiti­sche Äußerungen miteinbezi­eht. Die IHRA ist ein Zusammensc­hluss von 31 Staaten, die sich dem Kampf gegen Antisemiti­smus und der Leugnung der Schoah verschrieb­en haben. Sie kooperiert unter anderem mit der UNO, auch die Bundesrepu­blik ist Mitglied. »Die IHRA-Arbeitsdef­inition, die den israelbezo­genen ebenso wie andere modernere Formen des Antisemiti­smus erfasst, spiegelt die Erfahrungs­wirklichke­it der Betroffene­n wider«, sagt Steinitz.

Der Direktor der Zentralwoh­lfahrtsste­lle der Juden in Deutschlan­d (ZWST), Aron Schuster, bedankt sich bei RIAS für die Initiative. »Antisemiti­smus ist auf den Straßen deutlich spürbarer geworden«, sagt Schuster. Die bundesweit­e Koordinati­on werde helfen, in ganz Deutschlan­d Anlaufstel­len für Betroffene zu etablieren. »Die ZWST wird den Aufbau der Meldestell­en vor Ort aktiv begleiten.«

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Foto: Bundesverb­and RIAS Daniel Botmann, Geschäftsf­ührer des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, bei der Vertragsun­terzeichnu­ng

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