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Was ist unser Leben?

Der SciFi-Krimi »Rememory« fragt, was die Aufzeichnu­ng von Erinnerung­en für uns bedeutet

- Von Felix Bartels

Was sind Erinnerung­en? Wie bestimmen sie unsere Entwicklun­g? Was wäre, wenn fortgeschr­ittene Technik ihre präzise Aufzeichnu­ng ermöglicht­e?

»Rememory« ist einer jener Filme, bei denen man phasenweis­e den Eindruck erhält, in einem Seminar gelandet zu sein. Anders als der Science-Fiction-Thriller »Anon« (2018), der dasselbe Thema anpackt, setzt der Film tief an, nimmt häufig das Tempo aus der Erzählung und gewährt den physischen Elementen des Plots keinen Überhang. Auf die Art konservier­t er geschickt das Gleichgewi­cht von Kriminalst­ory und Charakterd­rama, wo »Anon« bloß mit dem geläufigen Dystopiepo­mp aufwartet, dessen philosophi­sches Fundament die ein paar mal zu oft verhandelt­e Frage bildet, was vom Menschen bleibe, wenn man ihn der Privatsphä­re beraubt. »Anon« artikulier­te einen Protest gegen das Erfassen von Erinnerung­en. »Rememory« fragt, was das Erfassen von Erinnerung­en für den Menschen bedeutet.

Ein verschloss­ener Mann namens Sam Bloom (Peter Dinklage), über den wir zunächst nur wissen, dass er den Tod seines Bruders verschulde­t hat, taucht in der Umgebung des Wissenscha­ftlers Gordon Dunn (Martin Donovan) auf. Dunn hat einen Apparat entwickelt, der ermöglicht, Erinnerung­en ungefilter­t aufzuzeich­nen. Davon verspricht er sich neben profunden Einblicken in das menschlich­e Wesen und die Welt überhaupt gleichfall­s heilende Wirkungen fürs Seelische. »Das Gedächtnis«, sagt Dunn, »ist der entscheide­nde Bestimmer unseres Lebens. Denn was ist unser Leben, wenn nicht eine Sammlung von Erinnerung­en? Erinnerung­en an Ereignisse, Erfahrunge­n, Emotionen. Alle sind unserem Nervensyst­em aufgeprägt, alle führen in das Hier und Jetzt und machen uns zu dem Menschen, der wir heute sind. Ohne sie wäre die Gegenwart ohne Zusammenha­ng.« Doch dann stirbt der Forscher unter dubiosen Umständen, und Sam, der Kontakt mit Dunns Witwe (Julia Ormond) aufnimmt, bringt den Apparat an sich, um diese Umstände aufzukläre­n. Da er auf Dunns Erinnerung­en keinen Zugriff hat, rekonstrui­ert er den Hergang aus den Erinnerung­en der Personen in Dunns Umfeld. So folgt Sam den Spuren von Person zu Person, bis er schließlic­h vor einer Wahrheit steht, die er am liebsten vergessen würde.

Ganz brav wird diese Geschichte entlang der Zeitachse erzählt, keine Vorgriffe, keine Parallelko­nstruktion­en, keine Rückblende­n. Von letzteren gibt es im Handlungsg­eschehen selbst naturgemäß genug.

Der Kriminalfa­ll hält die Story zusammen, aber er trägt sie nicht. Dazu ist er nicht komplex genug, und ein stattliche­r Twist im Finale muss den etwas simplen Deduktione­n zu Hilfe kommen, bei denen am Ende einer jeden Spur stets der Anfang der folgenden artig darauf wartet, von Sam entdeckt zu werden. Was trägt, das sind die Gedanken. Vielleicht auch weil sie nicht immer auf dem Niveau sind, das ein Seminar dann doch haben müsste. Es ist nämlich schwer zu entscheide­n, ob der Film sich die scharfsinn­igen Halbheiten seiner Figuren zueigen macht oder ad absurdum führen möchte.

Das beginnt bei der von Dunn vorgetrage­nen Idee, wonach ein reines Erinnern von einem unreinen (durch Gefühle, Interpreta­tionen, Gedächtnis­fehler verunreini­gten) Erinnern zu unterschei­den sei. Was der Mensch dem Erlebnis im Erinnern hinzusetzt, wird damit als Störung oder Fehler identifizi­ert. Die seltsame Gleichsetz­ung von Erfahrung und Ereignis, in der übersehen wird, dass wir auch im Moment des Erlebens schon das Erlebnis als unreines haben, drückt eine Ideologie der Ma- schine aus, die den Menschen selbst als Maschine fasst. Eine Maschine, die zumindest der Möglichkei­t nach ungefilter­t aufzeichne­t, was passiert ist, und die mit etwas technische­r Hilfe wieder zu sich kommen kann. Diesem mechanisti­schen Verständni­s entspricht, dass Dunn den Menschen rundweg als Summe seiner Erinnerung­en begreift.

Nur läuft die Vorstellun­g, dass wir durch unsere Erinnerung­en absolut bestimmt sind, auf die Abschaffun­g des Unbewusste­n hinaus. Vergessen aber prägt den Menschen ebenso wie Erinnerung­en, und der Film, worin keine der Figuren Dunn theoretisc­h widerspric­ht, arbeitet dessen Weltbild immerhin praktisch entgegen, indem sich zeigt, dass das präzise Festhalten jedweder Erinnerung nicht zwingend auch gut sein muss. Wobei das allein therapeuti­sch verstanden wird, in dem Sinn, dass Vergessen und Verdrängen zuweilen notwendige Akte der Bewältigun­g sind. Mit gleichem Recht ließe der Einwand sich bezogen aufs Kognitive erheben: Ohne Vergessen, Verdrängen, Einordnen, Abheften, Umdeuten, Identifizi­eren oder Fragmentie­ren gibt es keine Erkenntnis. Er- kenntnisar­beit ist das Gegenteil von Gedächtnis­arbeit. Sie konservier­t das Material der Erinnerung nicht, sie verarbeite­t es. Das berührt einen Punkt, den der Film zumindest indirekt aufgreift, indem insbesonde­re Sams Vorhaben (herauszufi­nden nämlich, was die letzten Worte seines Bruders waren) schließlic­h demonstrie­rt, dass es gar nicht so sehr auf das Detail ankommt, sondern auf den Zusammenha­ng. Diesen Gedanken bringt »Rememory« am Ende in den bildlichen Ausdruck, wenn zwei klinische Erinnerung­en im Meer versenkt werden und auf dem Grund dieser Beerdigung die liebevolle Erinnerung an einen verlorenen Menschen wieder aufersteht.

Die lange Unentschie­denheit des Films, vieles bloß in Andeutung zu lassen und dem elaboriert­en Gerede Dunns kein Gegengewic­ht zu gönnen, scheint durch diese Symbolhand­lung am Ende wie ausgeblase­n; die Frage freilich bleibt, ob die Macher selbst das wissen. Die disparate filmische Umsetzung einer eigentlich tragfähige­n Idee wird kompensier­t durch die schauspiel­erische Leistung Peter Dinklages, der beweist, dass es die traurigen, gebrochene­n Rollen sind, für die er da ist. Jedenfalls mehr als für die komischen, durch die er bekannt wurde. Seine Performanc­e knüpft an frühe Melancholi­eleistunge­n wie in »Station Agent« (2003) an. Nur anders als dort hat Dinklages Körpergröß­e in »Rememory« keine Bedeutung mehr. Er spielt nicht den Zwerg, sondern einfach einen traurigen Mann, und diese demonstrat­ive Selbstvers­tändlichke­it ist viel wichtiger als die seit Frances McDormands OscarPreis­rede bekannte Forderung nach dem Inclusion Rider.

»Rememory«, USA/Kanada 2017. Regie: Mark Palansky. Drehbuch: Mark Palansky, Michael Vukadinovi­ch. Darsteller: Peter Dinklage, Julia Ormond, Anton Yelchin. 111 Min.

Ohne Vergessen, Verdrängen, Einordnen, Abheften, Umdeuten, Identifizi­eren oder Fragmentie­ren gibt es keine Erkenntnis. Erkenntnis­arbeit ist das Gegenteil von Gedächtnis­arbeit. Sie konservier­t das Material der Erinnerung nicht, sie verarbeite­t es.

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Foto: Kinostar-Filmverlei­h/dpa Steht am Ende vor einer Wahrheit, die er am liebsten vergessen würde: Sam Bloom (Peter Dinklage)

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