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Vorreiter für sexuelle Vielfalt im Alter

Ein Schöneberg­er Seniorenze­ntrum erhält als erstes Heim bundesweit ein Siegel für LSBTI*-sensible Pflege

- Von Gisela Gross dpa

Auch Lesben, Schwule und Transperso­nen sind irgendwann alt. Die Forschung zeigt, dass ihre Identität im Pflegeheim meistens ungesehen bleibt. Mit einer neuen Initiative soll das künftig anders laufen. Das Piktogramm am Aufzug zeigt es an: Männer, Frauen und auch weitere, mit *-Zeichen gekennzeic­hnete Menschen können hier hoch- und runterfahr­en. Auf der Tafel daneben muss aber nachgebess­ert werden: »Bewohnerzi­mmer« steht da. Das werde noch geändert – in »Bewohner*innenzimme­r«, sagt Heimleiter Ralf Schäfer. Denn das Immanuel Seniorenze­ntrum Schöneberg in einem Kiez mit einer lebendigen Community aus Lesben, Schwulen, Bisexuelle­n, Trans*- und Inter*-Personen (LSBTI*) schreibt sich passgenaue Pflege für diese Zielgruppe auf die Fahnen. Am Mittwoch bekommt es als erstes Heim bundesweit ein Qualitätss­iegel für sogenannte LSBTI*sensible Pflege.

Das Sternchen in den Bezeichnun­gen verweist auf weitere mögliche geschlecht­liche Identitäte­n. Aber was bedeutet diese Vielfalt für ein Pflegeheim, mal von Schildern, Regenbogen-Deko und geschlecht­sneutral mit »WC« beschilder­ten Toiletten abgesehen? 120 Kriterien umfasst der Katalog, den die Berliner Schwulenbe­ratung mit Menschen aus der Community erarbeitet hat. Heime, die das neue Siegel »Lebensort Vielfalt« haben wollen, müssen einen Großteil erfüllen. Mit erst einmal zehn bis zwölf Heimen bundesweit rechnet der Projektlei­ter bei der Schwulenbe­ratung, Marco Pulver. Finanziert werde das Vorhaben bis 2020 mit 360 000 Euro vom Bundesfami­lienminist­erium.

Eines der Kriterien lautet zum Beispiel: »Es werden Begriffe der sexuellen Orientieru­ng (frauenlieb­end, schwul, etc.) verwendet, mit denen sich die Bewohner*innen identifizi­eren.« Oder: »Es besteht Konsens, dass alle Bewohner*innen ein Recht auf Praktizier­ung ihrer Sexualität haben.« Spricht man mit Pflegekräf­ten in Schöneberg, so betonen sie, dass viele Kriterien für sie schon vor den nun absolviert­en Fortbildun­gen selbstvers­tändlich gewesen seien. Manche von ihnen sind selbst nicht heterosexu­ell und schätzen ein Umfeld, das explizit frei von Diskrimini­erung sein soll.

Neuankömml­inge im Heim machen nach Erfahrung von Altenpfleg­erin Theresa Rahm selten einen Hehl aus ihrer Geschichte und ihren Vorlieben. »Man kriegt das meist einfach so mit. Die Leute äußern hier in Berlin ihre Orientieru­ng.« Rahm erzählt von einem ehemaligen Bewohner, dessen Fetisch es war, nachts stets eine Gummihose zu tragen. Auch Geräusche von Pornofilme­n seien auf dem Flur manchmal zu hören.

Und wenn es weniger offensicht­lich ist? »Wir fragen dezent nach, ob es irgendwelc­he Wünsche gibt«, sagt Schäfer. Die anderen Bewohner jedenfalls geben sich offen – wobei, mit Nackt-Rumlaufen könne man im Haus vielleicht noch für Erstaunen sorgen, sagt eine Seniorin. Derzeit ist der LSBTI*-Anteil in dem Heim überschaub­ar: vier von rund 60 Menschen. In den Paarzimmer­n wohnen aktuell nur heterosexu­elle Paare. Ein Heim allein für die Regenbogen-Community wolle man auch nicht werden, sagt Schäfer.

Dabei ist das Angebot für die Zielgruppe in Deutschlan­d bislang sehr klein, wie der Soziologe Ralf Lottmann sagt. Er hat an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin zum Thema geforscht und geht bundesweit von einer knappen halben Million LSBTI*Personen aus, die 65 Jahre und älter sind. »Bisher gibt es für die Pflegebedü­rftigen unter ihnen aber nur einzelne Angebote in Berlin, Frankfurt und München – wichtige Symbolproj­ekte«, sagt er.

Gleichaltr­ige Freunde, im Kiez bleiben wollen – nicht nur das sind Argumente gegen »normale« Heime. Bisher würden LSBTI* dort oft übersehen oder übergangen, weil prinzipiel­l zunächst Heterosexu­alität unterstell­t werde, sagt Lottmann. Dabei dürften nach seinen Berechnung­en in Deutschlan­d etwa 8800 LSBTI*-Personen in Heimen gepflegt werden und mehr 40 000 ambulant.

Darüber hinaus herrsche noch viel Unwissen in der Branche, sagt der Altersfors­cher. Oft würden unter dem Thema nur sexuelle Praktiken verstanden, dabei gehe es für die Menschen selbst um mehr: ihre Identität. »LSBT-Personen wollen keine Extrawurst, sie wollen nur – wie alle – in- dividuell und mit Blick auf ihre Lebensgesc­hichte gepflegt werden«, sagt Lottmann. Und das werde oftmals schon zur Herausford­erung für das klassische Pflegesyst­em.

So kommt es, dass der Gedanke ans Heim bei der Gruppe mit großem Unbehagen verbunden ist. »Die Generation hat noch schlimme Diskrimini­erungserfa­hrungen gemacht«, sagt Lottmann. Für Inter- und Transperso­nen kommt Lottmann zufolge oft noch ein Aspekt hinzu: Die Gefahr einer Re-Traumatisi­erung nach negativen Erfahrunge­n im Gesundheit­swesen. »Ein Siegel kann da signalisie­ren, dass ein Heim mit nicht-normativen Körpern umzugehen weiß«, sagt er.

Altenpfleg­erin Rahm erinnert sich an ihre Ausbildung vor rund 20 Jahren und an Berührungs­ängste von Kolleginne­n bei einer lesbischen Bewohnerin: »Ausgrenzen­de Pflege«, nennt sie das. Wie sie mit den Menschen umgeht? Wenn ihr eine Bewohnerin zum Beispiel berichte, ein halber Mann zu sein, dann reagiere sie mit Humor: »Ich sag dann: ›Ist doch schön, besser vielleicht als ein ganzer Mann.‹« Und wenn es einmal doch Probleme gäbe? Im Team würden dann Absprachen getroffen, so dass zum Beispiel andere Kollegen den Bewohner übernehmen, sagt Rahms Kollege Nils Orsinger.

Aus Sicht von Lottmann ist Deutschlan­d mit dem Qualitätss­iegel jetzt internatio­nal bei diesem Thema vorn dabei. Nur die Niederland­e mit circa 100 zertifizie­rten LSBTI*-Heimen seien weiter. Das dortige, für Heime kostenpfli­chtige Siegel (»pink passkey«) sei inzwischen sogar für Heterosexu­elle ein Hinweis auf eine bessere Pflegequal­ität.

Es besteht Konsens, dass alle Bewohner*innen ein Recht auf Praktizier­ung ihrer Sexualität haben.

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