Lebenslänglich Buchenwald
Das bewegte Leben des jugoslawischen Schriftstellers und KZ-Häftlings Ivan Ivanji
Auf ihren Raubzügen erbeuteten die Nationalsozialisten nicht nur Territorien und Rohstoffe, sondern auch Menschen. Einer von ihnen ist Ivan Ivanji. Der 89-Jährige war Häftling in Buchenwald. »Ich bin kein typischer jüdisch Verfolgter KZ-Häftling. Denn erstens kritisiere ich die Politik des Staates Israel und zweitens bin ich Atheist.« Ivan Ivanji blickt mich aufmerksam an, ein feines Lächeln auf dem Gesicht. Gleich darauf entschuldigt er sich für sein legeres Aussehen. Er trägt Hemd und Pullunder. Akkurat mit Bügelfalte. »Normalerweise trage ich eine Krawatte.«
Fast jedes Jahr kommt Ivan Ivanji nach Weimar. In der Stadt ist die Erinnerung an die deutsche Klassik allgegenwärtig. Auf dem Weg vom Bahnhof in die Innenstadt werben Litfaßsäulen für Theateraufführungen und Musikkonzerte. Doch Weimar ist nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch das Konzentrationslager Buchenwald – ein Synonym der Verfolgung und des Terrors durch die Nationalsozialisten. Ivan Ivanji ist Teil des Netzwerks der Überlebenden. Auch in diesem Jahr spricht er auf einer Podiumsdiskussion der Gedenkstätte Buchenwald zum Thema Zwangsarbeit und liest aus seinem im letzten Jahr erschienenen Roman »Schlussstrich«, einer autobiografischen Familiensaga, beginnend im Banat der 1880er Jahre, über den Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer bis zum Zerfall Jugoslawiens. Ivan Ivanji ist ein Mensch des 20. Jahrhunderts, sein Leben ist geprägt von den Wendepunkten dieser Zeit: der 2. Weltkrieg und das Ende des Kalten Krieges. Trotzdem verrät sein Lebensweg eine bemerkenswerte Kontinuität: Ivan Ivanji ist Kommunist – und er ist es auch nach dem Zerfall Jugoslawiens geblieben.
Beim Spaziergang durch die sonnige Innenstadt zeigt sich Ivan Ivanji selbstironisch: »In meinem Alter bin ich nicht mehr der Schnellste«, sagt er und hakt sich sanft bei seinem Sohn ein. Andrej begleitet ihn auf fast jeder Auslandsreise. Neben der Politik verbindet sie ihr Interesse für Sprache. »Ich war immer vor allem Schriftsteller, Literat, alles andere Broterwerb, das betone ich immer. Meinen ersten Gedichtband habe ich 1951 als 22-jähriger Student veröffentlicht.« In Jugoslawien erlebt Ivan Ivanji eine steile Karriere. Erst arbeitet er als Journalist und Schriftsteller, von 1969 bis 1974 ist er stellvertretender Generalintendant des Nationaltheaters. Anschließend wird er Diplomat: Von 1974 bis 1978 ist er Kulturattaché an der jugoslawischen Botschaft in Bonn. Außerdem ist er Übersetzer. Erst nur Literatur, darunter Günter Grass, Heinrich Böll, Karl Jaspers oder Miroslav Krleza. »1965 bat mich dann ein alter Kollege aufgrund meiner Deutschkenntnisse, beim Besuch des österreichischen Ministerpräsidenten zu übersetzen. Danach wurde ich auf Empfehlung des Außenministers Titos Dolmetscher und begleitet die Regierung auf Reisen in die BRD, die DDR und nach Österreich.« Die beste Anekdote dieser Zeit? »Einmal, während des Besuchs von Willy Brandt in Jugoslawien, wurde ich während der Regierungsgespräche vom Generalsekretär der Partei, Stane Dolanc, für meine Übersetzung kritisiert. Da beugte sich Tito zu uns zurück und sagte barsch: Was die deutsche Sprache angeht, ist Ivans Übersetzung die Linie der Partei.«
Ivan Ivanji stammt aus einer säkularen jüdischen Ärztefamilie. »Ich bin am 24. Januar 1929 in der serbischen Stadt Zrenjanin im Banat geboren. Mein Vater ist während seines Medizinstudiums in Deutschland sogar zum Christentum übergetreten, da er auf eine Anstellung bei einem bekannten Gynäkologen hoffte.« Die Kindheit in Zrenjanin ist geprägt von sprachlicher und religiöser Vielfalt. Orthodoxe, katholische und evangelische Christen, Calvinisten und Juden leben Tür an Tür. Auf der Straße spricht man Serbokroatisch, Ungarisch und Deutsch. »Ich habe kein Kind gekannt, dass nicht mehrspra- chig war«, beschreibt er seine Jugend. Es ist der Nachhall des bereits untergegangen Österreich-ungarischen Imperiums, das hier trotz der Schrecken des 1. Weltkriegs fortzuleben scheint. Ivan Ivanji beherrscht alle drei Sprachen perfekt. Deutsch lernt er von seinem österreichischem Kindermädchen. Ihr widmet er sogar einen eigenen Roman. Auch heute sagt er Erdäpfel statt Kartoffel oder Mehlspeise und nicht Gebäck.
Der deutsche Einmarsch in Jugoslawien am 6. April 1941 beendet die Kindheit des 14-jährigen Jungen mit einem Mal. Die Großeltern schlucken Gift, um der herannahenden Wehrmacht nicht in die Hände zu fallen. Die Eltern gelten nach den Nürnberger Gesetzen als Juden und werden verhaftet. Die genauen Umstände ihres Todes bleiben unbekannt. »Meine Eltern haben mich zu meinem Onkel in das von Ungarn besetzte Novi Sad geschickt. Ein Jahr vor dem Einmarsch veranlasste mein Vater aus Schutz vor den Deutschen meine calvinistische Taufe. Im April 1944 wurde ich dort verhaftet und kam im Zuge der über Ungarn laufenden Deportationen nach Auschwitz.« Gerade angekommen, noch auf der Rampe, sagt er einem der SS-Ärzte: »Ich bin arbeitsfähig«. Dieser Satz rettet sein Leben, er wird weiter nach Buchenwald und anschließend in die Außenlager Magdeburg und Niederorschel gebracht. In Niederorschel arbeitet Ivan Ivanji als Klempner an der Produktion von Junkersflugzeugen. Die letzten Kriegsmonate erlebt er im KZ Langenstein-Zwieberge.
Am 11. April 1945 befreien USamerikanische Truppen den fünfzehnjährigen Ivan Ivanji. »Von Lan-
genstein-Zwieberge fuhr ich mit einem englischen Jeep nach Magdeburg, da ich gehört hatte, dass sich 2000 jugoslawische Kriegsgefangene dort aufhielten«, erzählt er. Im Juli übernahm die Rote Armee die Kontrolle über Magdeburg und der Teenager kommt zum ersten Mal mit kommunistischen Ideen in Kontakt. Er besucht Veranstaltungen und Vorträge. Die Gespräche mit Rotarmisten und ehemaligen Häftlingen prägen ihn sehr. »In Magdeburg habe ich mir den roten Stern auf die Kappe genäht.« Bis September bleibt er in Deutschland, dann kehrt er gemeinsam mit den anderen Gefangenen zurück in die Heimat Jugoslawien.
Warum eigentlich Jugoslawien und nicht Israel? Was zieht ihn nach dem Krieg zurück? »Für mich war der östliche Kommunismus Stalinismus. Kommunismus war für mich das, was wir gemacht haben«, erklärt Ivan Ivanji seine Identifikation mit dem sozialistischen Staat. »Die jugoslawische Idee vereinte drei Aspekte: Arbeiterselbstverwaltung, Blockfreiheit und eine Orientierung am Schweizer Vorbild, wonach unterschiedliche Völker miteinander als Eidgenossen leben.« Es scheint, dass Ivan Ivanji die jüdische Identität in erster Linie durch die Deutschen aufgezwungen wurde. Jugoslawien bedeutet für ihn die Mitarbeit an einem politischen Projekt – ein Projekt, das gescheitert ist. »Es gab zu wenig Demokratie«, mischt sich Andrej in das Gespräch ein. »Oder zu viel«, entgegnet sein Vater leise. Diese Aussage kann Andrej nicht akzeptieren. »Im Unterschied zu den anderen sozialistischen Ländern war die jugoslawische Kulturpolitik relativ liberal. Es gab sogar Reisefreiheit. Aber der Staat blieb autoritär.« Ivan Ivanji schüttelt traurig den Kopf. Der Zerfall des eigenen Staates ist der große Schmerz und eine persönliche Nie- derlage in seinem Leben »Ich habe die Zeichen nicht wahrhaben wollen«, urteilt er selbstkritisch. »Den Nationalismus haben wir unterschätzt.« Und die Studentenproteste der jugoslawischen 68er Bewegung? War das kein Versuch, die jugoslawische Revolution weiter voranzutreiben? »Nein, die Proteste hätten keine Demokratisierung bedeutet. Dennoch muss ich mich heute dafür schämen, dass ich das nicht so ernst genommen habe.«
Während des Bürgerkriegs siedelt er gemeinsam mit seiner inzwischen verstorbenen Frau von Belgrad nach Wien über. Seitdem pendelt er zwischen beiden Städten. Es ist der Beginn seines letzten Lebensabschnitts: Dem Prozess der Aufarbeitung. Dazu gehört für ihn das Schreiben – über die Lagerhaft, über Jugoslawien und Deutschland, in beiden Sprachen. »Ich schreibe mal in der einen, dann in der anderen Sprache«, erzählt er. Manchmal übersetzt Ivan Ivanji sogar seine eigenen Bücher ins Deutsche wie den Roman »Schattenspringen«. Der im Jahr 1992 erschienene Roman erzählt die Geschichte eines 16-jährigen jungen Mannes, der sich nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald auf den Weg zurück in das heimatliche Jugoslawien macht. Das Schreiben ist für ihn wichtiger als seine beruflichen Erfolge: »Wer mag soll meine Bücher lesen, dort steht, was mir mehr oder weniger gelungen ist.«
Doch Ivan Ivanji schreibt nicht nur historische Romane. Für ihn bedeutet Auseinandersetzung mit der Geschichte direktes politisches Handeln. Was passiert, wenn spätere Generationen einmal die Geschichte vergessen? Oder wenn die Erinnerung aktiv bekämpft wird, wie zum Beispiel durch die AfD, deren Parteimitglieder das Holocaust Mahnmal in Berlin als »Denkmal der Schande« betrachten? »Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht mehr meine Aufgabe. Das müsst ihr, die zukünftigen Generationen, übernehmen.« Es ist ein Appell an die nachfolgenden Generationen, ihre eigenen Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Gerade deshalb engagiert sich Ivan Ivanji trotz seines Alters, denn ihn lässt die Vergangenheit nicht mehr los. »Ich bin lebenslänglich in Buchenwald verurteilt.«
»Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht mehr meine Aufgabe. Das müsst ihr, die zukünftigen Generationen, übernehmen.« Ivan Ivanji