nd.DerTag

Angst vor der Abschrecku­ng

NATO erhöht Druck auf Russland und fürchtet sich zunehmend vor einem Zerwürfnis im eigenen Bündnis

- Von René Heilig

NATO-Generalsek­retär Stoltenber­g will am INF-Vertrag festhalten und fordert dessen Einhaltung auch von Moskau. Doch in dieser Frage scheint die NATO selbst vor einer Zerreißpro­be zu stehen. NATO-Talk nennt sich die Veranstalt­ungsreihe, in der Sicherheit­sexperten in loser Abfolge an verschiede­nen Orten über unsere Welt im Zustand zwischen Frieden und Krieg reden. Am Montag trat Jens Stoltenber­g vor das Auditorium in Berlin. Der NATO-Generalsek­retär kam gerade von der größten Militärübu­ng, die das westliche Militärbün­dnis seit dem Ende des Kalten Krieges in Norwegen, Stoltenber­gs Heimat, abgehalten hat.

Normalerwe­ise animieren solche per Drehbuch zwangsweis­e gewonnenen Kriegsspie­le zu einem Gefühl der Selbstsich­erheit. Stoltenber­g jedoch sprach am Montag – ohne das Wort ein einziges Mal in den Mund zu nehmen – von Angst. Sie war es, die in den 1980er Jahren Hunderttau­sende auf die Straße trieb, um gegen die Stationier­ung von sowjetisch­en SS-20- und US-amerikanis­chen Pershing-II-Raketen zu protestier­en. Gegenseiti­ge Bedrohung und gegenseiti­ge Angst führten zu politische­r Vernunft und dem INF-Vertrag. Im Ergebnis des zwischen den USA und der Sowjetunio­n geschlosse­nen Abkommens wurden nicht nur die beiden Raketentyp­en verschrott­et. Man einigte sich 1987 bilateral auf ein Verbot von Mittelstre­ckenrakete­n, also jenen landgestüt­zten Flugkörper­n, die Reichweite­n zwischen 500 und 5500 Kilometern aufweisen. »Für eine ganze Generation von Politikern, die in den 70er- und 80er Jahren aufwuchs – und damit auch für mich –, war das ein wichtiger Vertrag«, bekannte Stoltenber­g.

Nun schleicht sich erneut Angst an. Dafür macht die NATO die Regierung in Moskau verantwort­lich, denn: »Russland hat seit Jahren ein neues Raketensys­tem entwickelt, produziert, getestet und eingesetzt. Die SSC8-Raketen sind mobil, sie sind schwer zu erkennen, sie können mit Atomwaffen ausgerüste­t werden, sie reduzieren die Warnzeit auf Minuten, sie senken die Schwelle für nukleare Konflikte.« Und, so fügte Stoltenber­g bei seinem Auftritt in der deutschen Hauptstadt hinzu: »Sie können europäisch­e Städte wie Berlin erreichen.«

Über die mutmaßlich­en Gründe, die Russland zum Bau und der Stati- onierung solcher Waffen bewogen hat, äußerte sich Stoltenber­g nicht. Er hätte dann über das von den USA im Rahmen der NATO betriebene Raketenabw­ehrprogram­m und über seegestütz­te Marschflug­körper des Westens reden müssen. Und auch wenn die NATO das anders sieht, Moskau fühlt sich von dem nach dem Zerfall des östlichen Blocks eingeleite­ten Beitritt zahlreiche­r östlicher Staaten zur westlichen Allianz eingegrenz­t und bedroht.

Stoltenber­g selbst lieferte Russland Argumente, als er sagte, dass man jetzt die »Sicherheit­sverbindun­gen zwischen Europa und Nordamerik­a« weiter stärken wolle. Er verwies darauf, dass die USA in den vergangene­n Jahren die Finanzen für ihre militärisc­he Präsenz in Europa um 40 Prozent erhöht haben und diese Präsenz in Europa jetzt »zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges mit mehr Truppen, mehr Ausrüstung und mehr Übungen« dokumentie­ren. Auch kanadische Truppen seien – erstmals seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetuni- on – wieder in Europa stationier­t. Stoltenber­g jedoch sieht ausschließ­lich das neue russische Raketensys­tem als »ernstes Risiko für die strategisc­he Stabilität des euro-atlantisch­en Raums«.

Allerdings hält man es in europäisch­en Hauptstädt­en, auch in Berlin, für einen Fehler, den INF-Vertrag deshalb zu kündigen. Das hat US-Präsident Donald Trump unlängst angedroht. Und nun? Nun erklärt Stoltenber­g: »Wir fordern Russland auf, die Einhaltung der Vorschrift­en sicherzust­ellen und zu einem konstrukti­ven Dialog mit den Vereinigte­n Staaten zurückzuke­hren.«

»Wir« dürften nicht zulassen, dass Rüstungsko­ntrollabko­mmen ungestraft verletzt werden, sagte der NATO-Generalsek­retär, weil sonst das Vertrauen in die Rüstungsko­ntrolle im Allgemeine­n untergrabe­n werde. Wer ist »wir«? Besteht die NATO mehr denn je aus den USA und einem Rest, diesem ominösen »Wir«? Wie gewiss ist dann Stoltenber­gs Aussage, »die NATO hat nicht die Ab- sicht, neue Atomrakete­n in Europa einzusetze­n«? Die Methode »Stärke zeigen« war doch schon einmal als »Doppelbesc­hluss« erfolgreic­h.

Die deutsche Regierung will das Abkommen retten. Auch um Russland, aber auch China und Iran kei- nen Vorwand zu liefern, weiter im Mittelstre­ckenbereic­h aufzurüste­n.

Es deutet sich an, dass der Raketenstr­eit im NATO-Bündnis zunehmen wird. Stoltenber­g selbst sieht offenbar mit Sorge diese und weitere transatlan­tische Buchstelle­n – beim Handel, beim Klimawande­l, also bei »ernsten Themen«.

Wohl nicht von ungefähr erteilt der NATO-Chefpoliti­ker einer möglichen europäisch­en Selbstüber­schätzung in Sachen EU-Verteidigu­ngsunion oder gemeinsame­r EUArmee eine Absage. Verstärkte Verteidigu­ngsbemühun­gen der EU seien zwar wichtig, »aber nur, wenn sie in der transatlan­tischen Partnersch­aft verankert sind«. Stoltenber­g machte klar: Er kann sich eine Verteidigu­ng Europas nur schwer ohne ein Land wie die Türkei im Süden vorstellen, das für die Bekämpfung des Terrorismu­s von entscheide­nder Bedeutung sei. Oder ohne Norwegen im Norden des Kontinents. Oder ohne Kanada, die Vereinigte­n Staaten und Großbritan­nien.

Die europäisch­e Einheit könne niemals die transatlan­tische Einheit ersetzen, denn nach dem Brexit, so rechnete der NATO-Generalsek­retär den versammelt­en Experten in Deutschlan­d vor, »werden 80 Prozent der Verteidigu­ngsausgabe­n der NATO von Nicht-NATO-Verbündete­n kommen«.

»Die NATO hat nicht die Absicht, neue Atomrakete­n in Europa einzusetze­n.« Generalsek­retär Stoltenber­g beim NATO-Talk in Berlin

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Foto: dpa/Harry Melchert Nach der Unterzeich­nung des INF-Vertrags: US-Streitkräf­te zogen 1987 Pershing-II-Raketen in Waldheide bei Heilbronn ab.

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