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Ein KZ-Wächter, der von Gaskammern nichts wusste

Münster: Ehemaliger SS-Mann weist im Prozess wegen Beihilfe zu Mord in Hunderten Fällen individuel­le Verantwort­ung zurück

- Von Sebastian Weiermann

Johann R. diente von 1942 bis 1944 im KZ Stutthof bei Danzig. Er habe dort keine »systematis­che Tötungsmas­chinerie feststelle­n können«, erklärte er jetzt im Verfahren vor dem Landgerich­t Münster. »Zum Schluss möchte ich noch einmal klar sagen, dass ich kein Nazi bin, nie einer war und auch in der wenigen Zeit, die mir vielleicht noch zu leben bleibt, nie einer sein werde.« Das sind die letzten Worte der Prozesserk­lärung von Johann R., die sein Anwalt am Dienstag vor dem Landgerich­t Münster verlas. Der Prozess gegen den 94-Jährigen war vor einer Woche eröffnet worden.

Von 1942 bis 1944 diente er als Wachmann im Konzentrat­ionslager Stutthof bei Danzig (heute Gdańsk). Die Staatsanwa­ltschaft Dortmund wirft ihm Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vor. Nach Ansicht der Behörde hat er von der Ermordung von Häftlingen gewusst und diese durch seine Tätigkeit »willent- lich gefördert«. Gegen ihn wird vor der Jugendkamm­er des Gerichts verhandelt, da er zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfe­nen Taten noch keine 21 Jahre alt war.

Stutthof gehört zu den in Deutschlan­d wenig bekannten KZ. Das Lager existierte von 1939 bis zum 1. Mai 1945. Von den insgesamt etwa 110 000 Inhaftiert­en fanden 65 000 dort den Tod. Die perfide Tötungsmas­chinerie in Stutthof steht der in anderen KZ in nichts nach. Es gab sowohl eine Genickschu­ssanlage als auch eine Gaskammer. Anfangs waren auch dort Häftlinge in Zugwaggons mit Zyklon B getötet worden. Außerdem wurden Gefangene für medizinisc­he Versuche missbrauch­t. Leichen wurden von Rudolf Spanner, Professor an der Medizinisc­hen Akademie in Danzig, zu Seife verarbeite­t.

Von all dem will Johann R., der nach dem Krieg seinen Doktor in Landschaft­sarchitekt­ur machte und eine Fachschule in Nordrhein-Westfalen leitete, nichts mitbekomme­n haben. Er gab lediglich zu, dass alle Wachleute im Lager von einem Kre- matorium auf dem Gelände gewusst hätten.

Es ist eine beinahe tragische Geschichte, die R. durch seinen Verteidige­r Andreas Tinkl verlesen lässt. Als »Volksdeuts­cher« in Rumänien gebo- ren, sei er 1942 zum Wehrdienst eingezogen worden. Die Musterung habe ergeben, dass er nicht für den Fronteinsa­tz geeignet sei. Er sei dann nach einer kurzen Ausbildung ins Lager Stutthof gekommen. Dort habe er seine Zeit mit Wachdienst­en verbracht. Da sein Kompaniefü­hrer ihm wohlgesonn­en gewesen sei, habe er oft einen Posten beziehen dürfen, an dem man »nicht so viel Angst« haben musste. Die 18-seitige Einlassung plätschert vor sich hin, ohne dass der ehemalige SS-Mann konkret wird. Oft geht es um den Kompaniefü­hrer, von dem R. meint, er habe das Lagerregim­e auch kritisch gesehen. Der Beschuldig­te schildert weiter eine Freundscha­ft zu einer jungen Frau vom »Bund Deutscher Mädel«. Auch sie habe den Nationalso­zialismus kritisch gesehen. Offen darüber gesprochen habe er freilich mit beiden nicht – aus Angst vor Repressali­en.

Die Schilderun­g eigenen Leids nimmt viel Raum in der Erklärung ein. Er habe Angst gehabt, auf seinem Posten einzuschla­fen, weil er fürchtete »mit dem Tod bestraft« zu werden. »Ich bin für mich geblieben und fühlte mich oft einsam«, teilt er mit.

Wenig Raum nehmen in den Erinnerung­en des Angeklagte­n die Häftlinge ein. Diese seien in einem »grauenvoll­en Zustand« gewesen, der sich zum Ende seiner Zeit im Lager – R. ließ sich im Sommer 1944 an die Westfront versetzen – noch deutlich verschlech­tert habe. Die Taktik von R. und seinen Verteidige­rn ist klar. Ja, er war SS-Mann, ja er hat im KZ ge- dient, aber: Er habe dort keine »systematis­che Tötungsmas­chinerie feststelle­n können«, beteuert er. Er habe damals gedacht, es handle sich bei dem KZ um ein Internieru­ngslager für regimekrit­ische Polen, aber nicht um ein Vernichtun­gslager. Weiter versichert R., er habe er immer im inneren Widerspruc­h zum System gestanden.

Anwalt Tinkl vergleicht den Fall seines Mandanten mit dem von Oskar Gröning, der 2015 wegen der Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen verurteilt worden ist. Dessen Fall sei anders gelagert, da er »überzeugte­r Nationalso­zialist« gewesen sei. Nicht so Johann R., meint der Verteidige­r. Sein Mandant habe selbst in ständiger Angst vor dem Regime gelebt.

Der Fall Johann R. wird das Landgerich­t noch länger beschäftig­en. Bis in den Februar ist er terminiert. Am Dienstag beantragte­n Vertreter der Nebenklage, dass die Überlebend­en, die heute in den USA, Kanada und Israel leben, per Videoübert­ragung befragt werden. Sie wollen und sollen ihr Leid selbst schildern.

»Ich habe immer im inneren Widerspruc­h zum System gestanden.« Johann R., Angeklagte­r

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