Echt, aber nicht wahr
Die Dokumentation »Die andere Seite von allem« ist die Chronik einer Familie und der politischen Geschichte Jugoslawiens
Im Zentrum von Belgrad gibt es eine Wohnzimmertür, die seit 70 Jahren verschlossen ist. Auf der anderen Seite der Tür wohnen fremde Nachbarn, auf dieser Srbijanka Turajlić, deren Eltern vor 1945 noch die gesamte Wohnung gehörte. Im Zuge der Verstaatlichung wurde die Fläche geteilt; statt einer konnten nun vier Familien dort leben. Bürgertum und Proletariat, sagt Srbijanka, hatten zuvor in Belgrad praktisch keine Berührung. Mit der Teilung der Wohnung, lässt sich sagen, hat man die Teilung der Klassen angegriffen.
Der Dokumentarfilm »Die andere Seite von allem« spielt, nicht zuletzt des Trailers wegen, mit der Erwartung des Zuschauers, es werde um Räume als Metapher für Politisches gehen. Gewiss ist die verschlossene Tür irgendwie so gemeint, aber Mila Turajlić, die Tochter von Srbijanka und Regisseurin des Films, arbeitet wenig damit. Wir sehen vielmehr ein biografisches Interview, das immerhin exemplarisch ist für die jüngere Geschichte Jugoslawiens.
Mila bleibt im Hintergrund, nicht nur wenn Srbijanka redet. Man hört sie fragen, widersprechen, kommentieren, aber in dem Raum, um den es gehen soll, kommt sie nicht vor. Die ruhige Kameraführung flankiert das. Die Stimmung ist überlegt, retrospektiv, resignativ. Als ob Serbien keine Zukunft hat und eigentlich alles schon geschehen ist.
Während des Sozialismus lebt Srbijanka als moderate Antikommunistin, in den Neunzigern wird sie zur prominenten Gegnerin von Milošević, an dessen Sturz im Oktober 2000 sie sich beteiligt. Heute sagt sie: »Falls ich wirklich Freiheit gewonnen habe – und schauen wir das Land an, in dem wir leben –, dann ist das die schlechteste Arbeit, die ich in meinem Leben geleistet habe.« Und sie erzählt, dass sie am Tag des Aufstands fassungslos beobachtet habe, wie die Demokratie damit beginnt, dass die Menschenmenge offensichtlichen Plündereien bejubelt. Srbijanka verkörpert die generische Ratlosigkeit der Bürgerrechtler, die eine Gesellschaftsform herbeiriefen, aber mit deren Eigenschaften nicht glücklich werden. Was hatten sie erwartet, einen humanen Kapitalismus? Nicht einmal die liberale Version gibt es überall; sie bleibt der Gewinnerseite des Weltmarkts vorbehalten.
Srbijankas Melancholie bezieht sich nicht auf den Verlust des Sozialismus, sondern auf den Jugoslawiens. Seit 1987 gab es im Land ei- gentlich bloß nur noch die Wahl zwischen nationalistischen Separatisten und einer Fraktion, die sich dem Zugriff des westlichen Imperialismus bereitstellte. Die kommunistische Idee einer nationalen Einheit verschiedener Völker hatte keine Mehrheit mehr. Wie verhält man sich in dieser Lage? Srbijankas Dilemma liegt darin, dass sie Jugoslawien erhalten und den Sozialismus beseitigen wollte, der jedoch die Bedingung für den Vielvölkerstaat war. Exemplarisch ist zudem ihre Fixierung auf Milošević, in dem sie den Schuldigen ausmacht. Sie klammert den kroatischen Nationalismus ebenso aus wie die Aktivitäten des deutschen Außenministeriums. Der geopolitische Hintergrund jener Forcierung des Separatismus durch die USA und spätere EU-Staaten – als Beseitigen unsicherer Variablen nahe der angedachten EU-Zone – bleibt unbehandelt.
Die Filmemacherin konzentriert sich ganz auf ihre Hauptperson, mit der sie sich politisch einig weiß. Die persönlichen Grenzen werden nicht anschaulich gemacht, obgleich sie unvermeidlich anschaulich werden. Keine Gegenrede konterkariert sie, auch nicht die Biografie der anderen. Die Möglichkeit, eine polymorphe Fabel zu erzählen, bleibt ungenutzt, und das macht den Film bloß authentisch, aber nicht wahr.
Das Dilemma von Srbijanka Turajlić liegt darin, dass sie Jugoslawien erhalten und den Sozialismus beseitigen wollte, der jedoch die Bedingung für den Vielvölkerstaat war.
»Die andere Seite von allem – Eine politische Geistergeschichte«, Serbien/ Frankreich/Katar 2017. Regie/Buch/ Kamera: Mila Turajlić; Darsteller: Srbijanka Turajlić. 104 Min.