Doppelt benachteiligt bei der Mobilität
Geringverdiener zahlen prozentual mehr für Verkehr und leiden besonders unter der Autolawine
Eine BVG-Jahreskarte für 365 Euro und eine schnelle Umsetzung des Mobilitätsgesetzes würde für mehr Gerechtigkeit sorgen. »Mobilität für alle!«, ist die Kurzstudie überschrieben, die der Zukunftsforscher Stephan Rammler sowie der Verkehrswissenschaftler Oliver Schwedes im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung verfasst haben. »Die unteren Schichten, die zunehmend an den Stadtrand gedrängt werden, müssen 30 Prozent des Haushaltseinkommens für Verkehr ausgeben«, sagt Schwedes am Montagabend bei der Vorstellung des 18 Seiten schlanken Papiers. Er bezieht sich dabei auf das unterste Einkommensfünftel der Bevölkerung. Das oberste Fünftel muss nur 15 Prozent für das Fortkommen aufwenden. Das sei weniger als vor einigen Jahren.
Dazu kommt noch die oft schlechtere Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Auch neue Angebote wie Ridesharing-Dienste, eine Art Sammeltaxi, bei dem Mitfahrten per Smartphone gebucht werden »fehlen dort, wo sie am meisten gebraucht werden«, beklagt Stephan Rammler. In der Diskussion kritisiert Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB, dass sogar das von den landeseigenen Berliner Verkehrsbetrieben gestartete Ridesharing-Angebot BerlKönig sich auf das Zentrum konzentriert und nicht am Stadtrand das dünnere Busangebot ergänzt. Beim öffentlich beauftragten LeihfahrradAnbieter Nextbike sehe es genauso aus, moniert Kerstin Stark, Mitinitiatorin des Volksentscheids Fahrrad.
Dazu kommt noch, dass die Wohnorte von Menschen mit geringem Einkommen besonders den Emissionen des Autoverkehrs – Lärm und Schadstoffe – ausgesetzt sind.
Als eine schnell umsetzbare Maßnahme, um mehr Gerechtigkeit herzustellen, empfehlen die Studienautoren die Einführung einer Berliner Jahreskarte für Bus und Bahn zum Preis von 365 Euro nach Wiener Vorbild. Derzeit müssen Abonnenten mit 761 Euro mehr als das Doppelte zahlen. »Wir gehen da ran in der Koalition und prüfen, welche Schritte nach unten möglich sind«, sagt Daniel Buch holz, Umwelt experte der SPDAbgeordnetenhaus fraktion und ruft in Erinnerung, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) schon eine Preissenkung auf 50 Euro pro Monat vorgeschlagen hatte.
Für Geringverdiener, die keinen Anspruch auf das erst kürzlich im Preis gesenkte Sozialticket haben, wäre das eine deutliche Entlastung. Obwohl die Fahrgastzahlen in Wien nach der Preissenkung 2012 deutlich gestiegen sind, legen Studien nahe, dass Autofahrer allein durch günstige Tarife kaum zum Umstieg auf Bus und Bahn zu bewegen sind.
Das gelingt nur mit einer Umverteilung des städtischen Raums. »Wenn in Berlin 30 Prozent der Einwohner, die ein Auto haben, 60 Prozent des öffentlichen Raums belegen, ist das ungerecht«, so Schwedes. Das im Sommer verabschiedete Mobilitätsgesetz sei ein großer Fortschritt für den gerechten Ausgleich zwischen den Verkehrsteilnehmern. Für die Umsetzung brauche es jedoch mehr Engagement in der Politik. »Legen Sie sich doch mal mit den Leuten an, die verkehrspolitisch noch in den 60er Jahren sind, zum Beispiel mit ihrem eigenen Bürgermeister«, fordert der Wissenschaftler den Parlamentarier Buchholz auf. »Die ethische Raumnutzung in der Stadt wäre der Kern einer Zukunftsdebatte«, ist Stephan Rammler überzeugt. »Die Mobilitätsdebatte kann man dann davon ableiten.«