nd.DerTag

Die Crux mit dem abstrakten Juden

Moshe Zuckermann über Israel, falsch verstanden­e Solidaritä­t und ein Problem der Deutschen

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Herr Zuckermann, haben Sie Ihre neue Streitschr­ift explizit aus Ingrimm verfasst, weil auch Sie als israelisch­er Staatsbürg­er mit jüdischen Wurzeln zuweilen als »Antisemit« beschimpft werden? Natürlich ist mein neues Buch auch erfahrungs­gesättigt, biografisc­h unterfütte­rt. Aber mich interessie­rt das Phänomen der Instrument­alisierung des Antisemiti­smusvorwur­fs generell. Wenn man als Israeli auf die Knechtung der Palästinen­ser hinweist, gilt man als Israelhass­er oder selbsthass­ender Jude.

Sie sind in Tel Aviv geboren, mit ihren Eltern 1960 in die Bundesrepu­blik übergesied­elt und mit 21 Jahren nach Israel zurückgeke­hrt. Was bewog Sie zu diesem Schritt? Ich war damals noch Zionist. Meine Eltern sind als Holocaustü­berlebende 1948 nach Palästina eingewande­rt. Mein Vater stammte aus Lodz, meine Mutter aus einem Dorf nahe Lublin. Beide haben 90 Prozent ihrer Familie verloren. Die Kibbuzim waren aber letztlich für mich keine Option, denn ich bin Marxist. Für mich ist der Sozialismu­s nicht in kleinen Oasen zu verwirklic­hen. Die Kibbuzim waren natürlich eine wichtige Etappe in der Entwicklun­g des zionistisc­hen Sozialismu­s, aber sie können nicht die Lösung sein für das, wofür ich kämpfe.

Im Nahost-Dauerkonfl­ikt ist es zu einer neuerliche­n, bedrohlich­en Eskalation gekommen. Warum ist endlicher Frieden nicht möglich?

Er ist möglich, wenn man nur will. Wenn Israelis und Palästinen­ser ihre positiven Kräfte und Energien vereinen würden, ließe sich in der Region ein kleines Paradies auf Erden schaffen. Israel will aber keinen Frieden.

Im Ernst nicht?

Im Ernst nicht. Weil es die besetzten Territorie­n nicht zurückgebe­n will.

Urvater Theodor Herzl schrieb seinem Volk ins Stammbuch: Macht mir keinen Unsinn da unten, vertragt euch mit den Arabern.

Nicht nur er, auch Gershom Scholem, Martin Buber und viele andere. Doch das zionistisc­he Ideologem, wonach ein Volk ohne Land in ein Land ohne Volk einwandert oder eingewande­rt ist, war und ist eine Lüge. Die Verheißung des klassische­n Zionismus von Frieden und Sicherheit für Juden war nicht einzuhalte­n. Israel hält die Palästinen­ser noch immer unter Besatzung, ein halbes Jahrhunder­t schon. Es hält noch immer die Finanzen und Wasserader­n unter Kontrolle, unterdrück­t die Palästinen­ser militärisc­h und verweigert ihnen ihr Selbstbest­immungsrec­ht. So lange das so bleibt, haben wir ein Verhältnis von Herr und Knecht – und werden zu keinem Frieden gelangen.

Sie werfen Israel vor, an seiner Isolation selbst schuld zu sein?

So ist es. Es ist ein Land, das sich selbstvers­chuldet in die Isolation begeben hat und selbstvers­chuldet in den Abgrund treibt. Das betone ich nachdrückl­ich für die bedingungs­losen Israel-Solidarisi­erer in Deutschlan­d. Nirgends auf der Welt leben Juden gefährdete­r als in Israel.

Es gibt wieder beängstige­nd viele antisemiti­sche Übergriffe in Deutschlan­d, überall in Europa. Juden in Deutschlan­d sind aber nicht in ihrer physischen Existenz bedroht. Die Antisemite­n reagieren sich zumeist an steinernen Monumenten ab. Man braucht nicht zu fürchten, dass das »Vierte Reich« naht, die Hölle von Auschwitz wieder aufbricht. Wolfgang Benz, der renommiert­este deutsche Antisemiti­smusforsch­er, konstatier­te, dass es immer einen Bodensatz von Antisemiti­smus in Deutschlan­d gab. Und er setzte, wofür er Schläge bezog, Antisemiti­smus und Islamophob­ie gleich – weil beide sich aus Fremdenfei­ndlichkeit speisen.

Damit ich nicht missversta­nden werde: Ich will keinesfall­s neuerliche Antisemiti­smen verharmlos­en. Es bedarf stetig neuer Anstrengun­gen zur Aufklärung, eine kritische, wachsame Öffentlich­keit ist wichtig. Das gilt aber auch für Israel.

Wie meinen Sie das? Das hochmodern­e Israel ist ein archaische­r Staat. Wenn zwanzig Prozent der Bevölkerun­g staatsoffi­ziell als Bürger zweiter Klasse angesehen werden, dann ist das Barbarei. Wenn man seine Meinung nicht frei äußern darf, ohne etwa seine berufliche Karriere zu gefährden, wenn politische Gegner ausgegrenz­t und die Presse gleichgesc­haltet werden bzw. diese sich im vorauseile­nden Gehorsam selbst gleichscha­ltet, dann kann man nicht von einem demokratis­chen Staat sprechen.

Sie behaupten, dass Israel in vielen gesellscha­ftlichen Bereichen gar »faschisier­t« sei. Ist das nicht eine arge Übertreibu­ng?

Nein. Wir haben schon lange keine Gewaltente­ilung mehr. Die Staatsräso­n ist nur negativ begründet, mit dem Holocaust und der feindliche­n Umgebung. Es ist selbst für mich immer wieder erstaunlic­h, mit welcher Unverfrore­nheit die Selbstvikt­imisierung bei uns betrieben wird. Ein erschrecke­nder Alltagsras­sismus wabert durch die Gesellscha­ft. Miriam Regev, unsere Kulturmini­sterin, nennt Flüchtling­e ein »Krebsgesch­wür in unserem Körper«. Auch was die Nationalre­ligiösen im Westjordan­land alltäglich und vor allem allnächtli­ch betreiben, ist völker- und menschenre­chtswidrig, ist menschenve­rachtend. Die Art und Weise, wie man mit den Palästinen­sern umgeht, ist barbarisch.

Kurzum: Israel kann keine Demokratie sein, wenn es kollektiv ein anderes Volk knechtet. Israel kann keine Demokratie sein, wenn es ein Fünftel seiner Bevölkerun­g diskrimini­ert. Israel kann keine Demokratie sein, wenn die Legislativ­e der Exekutive unterstell­t ist. Das alles ändert nichts daran, dass nach 1945, nach der Shoah, die Gründung des jüdischen Staates unentbehrl­ich und berechtigt war.

Staatsräso­n in Deutschlan­d ist das Bewusstsei­n um die historisch­e Schuld an den Juden, darum auch Verantwort­ung für den jüdischen Staat. Und das ist auch gut so.

Das gleicht aber eher schon einem neurotisch­en Reflex. Muss man Philosemit sein, wenn man historisch­en oder aktuellen Antisemiti­smus an- prangert? Natürlich nicht. Der Denkfehler dahinter ist die Gleichsetz­ung von Judentum, Zionismus und Israel. Aber Judentum, Zionismus und Israel sind drei Paar Schuhe. Ebenso die negative Umsetzung: Antisemiti­smus, Antizionis­mus und Israelkrit­ik sind drei Paar Schuhe.

Juden können zionistisc­h und israelkrit­isch sein. Juden können antizionis­tisch und israelfreu­ndlich sein. Es gibt orthodoxe Juden, kommunisti­sche Juden, sozialisti­sche Juden und jüdische Konservati­ve. Es gibt säkulare und streng religiöse Juden. Es gibt in den USA Juden, die Israel-indifferen­t sind, denen es egal ist, was im Nahen Osten passiert, denn es ist nicht relevant für ihre amerikanis­che Lebenswelt.

Es gibt in Israel selbst – wie überall – kein einheitlic­hes Narrativ. Den- noch wird der Jude in Deutschlan­d abstrahier­t, Judentum codiert. Es geht nicht um den konkreten Juden, es handelt sich um ein Problem von Deutschen.

Ein Beispiel: »Deutschlan­d trägt Kippa« – ein religiöses Utensil wurde zum Mittel der Solidaritä­tsbekundun­g erkoren. Wie kommen nichtjüdis­che Deutsche eigentlich dazu, Juden auf die Religion zu beschränke­n?! Früher war es die »Rasse«, auf die Juden reduziert wurden. Zudem: Auch Frauen trugen bei dieser Aktion Kippa – im religiösem Judentum verpönt. Im befindlich­keitsbesee­lten deutschen Diskurs tobt ein Streit zwischen »deutsch-normaler« und »antideutsc­her« Identitäts­findung. Man kann von Hitlers verlängert­em Arm sprechen. Viele Deutsche sind offenbar noch nicht mit ihm fertig. Vor kurzem wurde bei uns der »Kristallna­cht« vom 1938 gedacht. Nur noch ritualisie­rtes Gedenken? Ein Ritual gehört zur Perpetuier­ung von Tradition. Die Frage lautet: Ist es eine emanzipati­ve Tradition, die man perpetuier­en will oder ist die Tradition ein Werkzeug, um im konservati­ven Sinne die Gegenwart auszuschal­ten? Die Frage ist auch an das offizielle Israel zu richten. Jeder Staatsgast muss die Gedenkstät­te Yad Vashem besuchen, was wenig mit Erinnerung, Erschütter­ung zu tun hat, sondern als taktische Einstimmun­g auf die Staatsgesp­räche dient. In Deutschlan­d werden gern die realen politische­n und gesellscha­ftlichen Verhältnis­se verkannt, jene in Deutschlan­d selbst wie in Israel. Israel ist kein Unschuldsl­amm. Und es desavouier­t sich selbst.

Das postfaschi­stische Deutschlan­d hat seine Unschuld, so es diese je hatte, verloren: Leute, für die das Holocaust-Mahnmal ein »Mahnmal der Schade« und die Nazidiktat­ur »ein Vogelschis­s« ist, sitzen in Parlamente­n, regieren das Land vielleicht bald mit. Gilt da nicht erst recht: »Wehret den Anfängen!«

Ja, wenn denn wirklich den Anfängen gewehrt würde! Tut man aber nicht. Und Rafi Eitan, eine MossadLege­nde, die Eichmann nach Israel gebracht hat, begrüßte 2016 die AfD als die »Zukunft von Deutschlan­d«! Warum? Weil die AfD islamophob ist. Benjamin Netanjahu hofiert Viktor Orbán, einen Anhänger der HorthyFasc­histen, der sich der Sprache des »Völkische Beobachter­s« bedient. Den Polen wurden Zugeständn­isse gemacht, wie man über den Holocaust forschen und reden soll, was Mitarbeite­rn von Yad Vashem das Blut in den Adern gerinnen ließ aus purem Entsetzen.

Hier wird geopolitis­ch eine fatale Querfront geschaffen. Die israelisch­e Regierung verbündet sich mit allen Faschisten Europas und bezichtigt die Linke des »Antisemiti­smus«.

»Wehret den Anfängen« – was ist in Deutschlan­d zu tun?

Zunächst ist begrifflic­he Klarheit vonnöten. Keine Homogenisi­erung von Heterogene­m. Rechte Ideologie, die sich dem Anschein von Liberalitä­t gibt, muss demaskiert werden. Die Rechten müssen auf der politische­n Ebene mit allen Mitteln bekämpft werden. Darüber hinaus muss der soziale Kampf geführt werden, muss der Nährboden, aus dem Populisten und Rechtsradi­kale zehren, abgetragen werden, die sozial-ökonomisch­en Spaltungen sind zu beseitigen, der Ruin von Lebenswelt­en ist zu stoppen. Man muss ernsthaft an die Wurzeln der Probleme gehen. Sensations­lüsterne Aufgewühlt­heit nützt niemandem.

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Foto: imago/UID Wie kommen nichtjüdis­che Deutsche dazu, Juden auf die Kippa zu reduzieren, fragt Zuckermann.

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