Ein Tollhaus neuralgischer Befindlichkeiten
Wie und warum die Realität in Deutschland und Israel aus dem Blickfeld gerät
Ein Ungeist geht um in Deutschland – es ist, als habe sich der Orwellsche Neusprech ein neues Feld für seine realhistorische Manifestation gesucht und gefunden: im Antisemitismusdiskurs des heutigen Deutschland. Wahllos und ungebrochen werden Begriffe durcheinander geworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Deutschen des Antisemitismus gezeiht, eine gesamte Debattenkultur in ein Tollhaus neuralgischer Befindlichkeiten und unaufgearbeiteter Ressentiments verwandelt, wobei sich linke Gesinnung nach rechts wendet und rechte Ideologen sich den Anschein von Liberalität zu geben trachten.
Im Mittelpunkt des Wirrsals steht der Nahostkonflikt beziehungsweise der israelisch-palästinensische Konflikt, der aber nicht etwa historisch, politisch, ökonomisch oder sonstwie analysiert wird, sondern lediglich die Plattform für das gesteigerte Toben von Meinungen, Zuschreibungen, Schmähungen und selbstgefälligen Parteinahmen darstellt.
Es geht indes letztlich vordringlich um das Verhältnis von Deutschen zu Juden, um die Last der deutschjüdischen Vergangenheit und um ihre perversen Auswirkungen auf den gegenwärtigen deutschen Diskurs.
Und weil Judentum, Zionismus und Israel in diesem inadäquaten, ideologischen Gerangel gleichgestellt werden, um daraus – negativ gewendet – die widersinnige Gleichstellung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik abzuleiten, diese Gleichstellung sich zum unerbittlichen Glaubensbekenntnis verfestigt hat, gerät die Realität völlig aus dem Blickfeld des Diskurses: Deutsche solidarisieren sich mit einem Israel, das seit mindestens fünfzig Jahren Palästinenser knechtet, und wenn man sie darauf hinweist, dass diese Solidarität nicht haltbar ist, gerät man in ihrem Munde zum Antisemiten, zum Israelhasser oder gar selbsthassenden Juden.
Israel ist mein Land, in dem Sinne, dass sich in ihm meine Lebenswelt gebildet hat, dass ich seine Kultur aufgesaugt habe, seine Sprache spreche und meine berufliche Laufbahn in ihm verfolgt habe. Ich sehe dieses Land aber auch äußerst kritisch, weil es sich zu etwas entwickelt hat, das nicht nur zu meinen Vorstellungen der Jugendzeit in einem krassen Gegensatz steht, sondern weil es meines Erachtens auch in einem Gegensatz zu jedweder humanen, aufgeklärten und friedlich ausgerichteten Gesellschaft steht. In dieser kritischen Einstellung haben sich sowohl Enttäuschung als auch ein lebensgeschichtlich geformtes Involvement sedimentiert.