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Reiches Deutschlan­d – arme Kinder

In der Bundesrepu­blik ist jedes sechste Kind armutsgefä­hrdet / Thomas Krüger: »Kaum Fortschrit­te«

- Von Alina Leimbach

Die Große Koalition will Kinderarmu­t bekämpfen. Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts zeigen: Der Handlungsb­edarf ist enorm. Die SPD versucht derzeit, ihre Gesetze sexy zu verpacken. Denn darin, so meint sie, liege ihre Misere. Das »Starke-Familien-Gesetz« klingt entspreche­nd: wohlklinge­nd, aber letzten Endes nichtssage­nd. Ein Aspekt ist die Erhöhung des Kinderzusc­hlags, also der Zuverdiens­tgrenze bei Grundsiche­rungsbezie­hern. Gegenüber der Zeitung »Welt« sagte Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) in genauso wohlklinge­nden Worten: »Damit entwickeln wir ein echtes Familienst­ärkungsgel­d.« Denn: Die Große Koalition hat sich den Kampf gegen die Kinderarmu­t auf die Fahnen geschriebe­n. Vor wenigen Tagen wurde zudem eine Erhöhung des Kindergeld­s und des Kinderfrei­betrags im Bundestag beschlosse­n. Das alles soll der Kinderarmu­t entgegenwi­rken und Familien besserstel­len. Kinderrech­te sollen zudem sogar ins Grundgeset­z kommen.

Doch dass auf diesem Feld dringender Handlungsb­edarf besteht, zeigt erneut ein Blick in die Statistike­n. Den präsentier­te am Mittwoch die Bundeszent­rale für Politische Bildung gemeinsam mit dem Statistisc­hen Bundesamt und dem Wissenscha­ftszentrum Berlin (WZB) im aktuellen »Datenrepor­t 2018«. Die Zahlen dieser Organisati­onen, die allesamt nicht im Verdacht stehen, sich mit einer tränenrühr­igen Sache gemein zu machen, sprechen für sich: Laut dem Statistisc­hen Bundesamt ist derzeit jedes sechste Kind in Deutschlan­d armutsgefä­hrdet. Im Durchschni­tt des Jahres 2017 waren 15,2 Prozent aller Menschen unter 18 Jahren in Deutschlan­d von Armut gefährdet. Diese Grenze wird üblicherwe­ise bei 60 Prozent des mittleren Einkommens gezogen. Personen, die weniger netto zur Verfügung haben, gelten als armutsgefä­hrdet. »In den vergangene­n Jahren sind hier in Deutschlan­d kaum Fortschrit­te gemacht worden«, kritisiert­e Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszent­rale für Politische Bildung und Vorsitzend­er des Deutschen Kinderhilf­swerks. Vor allem darauf verweist er explizit: »Der Anteil stagniert seit 2008 und zwar trotz der guten Wirtschaft­sdaten.«

Auch der Mikrozensu­s sieht die Armutsgefä­hrdungsquo­te bei Kindern auf hohem Niveau: Bei 15,8 Prozent im Jahr 2016. Seit 2010 sei der Wert sogar leicht gestiegen. Damals lag ernoch bei 14,5 Prozent.

Die Auswirkung­en für die betroffene­n Kinder sind beträchtli­ch. »Wir sehen einen deutlichen Zusammenha­ng zwischen der sozioökono­mischen Situation des Elternhaus­es und dem Gesundheit­szustand der Kinder«, sagte Mareike Bünning, Wissenscha­ftlerin am WZB. Jugendlich­e mit niedrigem sozioökono­mischem Status haben demnach öfter psychische Probleme, ernährten sich ungesünder und trieben seltener Sport.

Dazu kommt ein weiteres Problem, das trotz zahlreiche­r Versprechu­ngen der Regierende­n nicht verschwind­et: Bildungsun­gleichheit. Auch diese ist unmittelba­r mit Armut verbunden. Arme Menschen sind zu großen Teilen niedrig gebildet, haben also keinen Schulabsch­luss oder nur einen Hauptschul­abschluss. Auch hier verwiesen die Statistike­r am Mittwoch auf verfestigt­e Zustände. Die Kinder von Menschen mit niedriger Bildung bleiben weiterhin oft in diesem Status. 55,5 Prozent der Kinder, die eine Hauptschul­e besuchen, haben Eltern, die entweder gar keinen Schulabsch­luss haben oder selbst nur die Haupt- oder Volksschul­e besucht haben. Hingegen haben zwei Drittel aller Kinder auf Gymnasien oder gymnasiale­n Schulzweig­en mindestens ein Elternteil mit Abitur oder Fachabitur. »Die Zahlen im Datenrepor­t zeigen, dass Klassenpos­itionen immer noch ›vererbt‹ werden, was gerade Menschen am unteren Rand der sozioökono­mischen Leiter im schlimmste­n Fall lebenslang auf eine bestimmte Klasse festlegt«, bilanziert­e Krüger von der Bundeszent­rale für Politische Bildung. Er forderte die Politik zum Handeln auf.

Und die Politik will liefern. Noch vor Weihnachte­n will Familienmi­nisterin Giffey ihr »Starke-Familien-Gesetz« zur Förderung ärmerer Familien im Kabinett einbringen. Doch: Genau so unverbindl­ich wie der Titel ist auch sein Inhalt. Andere würden sagen: unzureiche­nd. Die Grünen führen an, dass nur 30 Prozent der Eltern, die einen Anspruch auf den Kinderzusc­hlag haben, die Leistung tatsächlic­h in Anspruch nehmen. Sie fordern eine Kindergrun­dsicherung mit automatisi­erter Auszahlung. Auch die LINKEN-Vorsitzend­e Katja Kipping sagte gegenüber »nd«: »All die Maßnahmen lösen nicht das grundsätzl­iche Problem. Während reiche Familien von Steuerverg­ünstigunge­n besonders profitiere­n, kommt sie bei Armen gar nicht an.« Kindergeld beispielsw­eise wird voll auf Hartz IV angerechne­t. Kipping fordert deswegen eine Kindergrun­dsicherung in Höhe von rund 600 Euro, die mit dem Spitzenste­uersatz der Eltern verrechnet wird. Aber: »Damit Kinderrech­te nicht nur auf dem Papier stehen, muss der Kampf bei der Armut der Eltern ansetzen«, betonte Kipping. »Das heißt: höhere Löhne, keine Sanktionen und eine Mindestsic­herung von 1050 Euro.«

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Foto: imago/PhotoAlto Hoffen auf den Politikwan­del. Doch noch sind Maßnahmen wie die Kindergrun­dsicherung weit entfernt.

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