Sonne aus der Apotheke
Vitamin D soll vor Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen – Studien bestätigen das nicht
Lange galt Vitamin C als eine Art Wunderwaffe gegen vielerlei Krankheiten. Heute wird Ähnliches von Vitamin D behauptet. Mediziner raten jedoch zur Vorsicht. Vitamine genießen einen legendären Ruf. Für viele verkörpern sie im System der Ernährung, anders zum Beispiel als Fette oder Kohlenhydrate, das wahrhaft Gute. Wer regelmäßig Vitamine zu sich nimmt, heißt es, bleibt gesund und fördert, wenn er doch einmal krank wird, nachhaltig seine Genesung. Mit sogenannten Nahrungsergänzungsmitteln, die neben Vitaminen oft auch Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten, werden heute in Deutschland dreistellige Millionenumsätze erzielt.
»Das Schlucken von Vitaminen hat die beschwerlichen Wallfahrten zu den Reliquien abgelöst, die einst von Kranken in der Hoffnung auf Heilung aufgesucht wurden«, schreibt der Ernährungsexperte Udo Pollmer. Heute versprächen Vitamincocktails jene Erlösung, die Menschen sich früher von der Anbetung heiliger Gegenstände erwartet hätten.
Eingeleitet wurde dieser Prozess durch das Baseler Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche. Im Mittelpunkt stand Vitamin C (Ascorbinsäure), das in den 1920er Jahren erstmals künstlich hergestellt werden konnte. Zwar wussten die leitenden Wissenschaftler bei Hoffmann-La Roche, dass Erwachsene durch den Verzehr von Obst und Gemüse genug Vitamin C aufnehmen. Gleichwohl suchte das Unternehmen nach Möglichkeiten, den Vertrieb von künstlichem Vitamin C anzukurbeln. Im Verbund mit den Schweizer Gesundheitsbehörden erfand es zu diesem Zweck neue Krankheitsbilder, die, so erklärte man, auf einen Mangel an Ascorbinsäure zurückzuführen seien und sich durch deren Einnahme in Tablettenform beheben ließen. Da auch viele Ärzte daran glaubten, war der Siegeszug von Vitamin C in Europa nicht aufzuhalten. Von 1934 bis 1995 produzierte Hoffmann-La Roche knapp 500 000 Tonnen an reinem Vitamin C, das viele Menschen bis heute in hoch dosierter Form schlucken. Dabei gibt es keinen wissenschaftlich gesicherten Nachweis, dass Vitamin-C-Pillen einen medizinischen Nutzen für gesunde Erwachsene haben.
Inzwischen wird ein weiteres Vitamin als eine Art Wundermittel gehandelt: Vitamin D. Eigentlich handelt es sich hierbei um ein Prohormon, Cholecalciferol, das im Körper in ein Hormon namens Calcitriol umgewandelt wird. Unter den Vitaminen hat Vitamin D eine Sonderstellung. Der Körper kann es mithilfe von Sonnenlicht selbst bilden. Bei Men- schen, die sich häufig im Freien aufhalten, synthetisiert die Haut rund 80 bis 90 Prozent des täglichen Bedarfs an Vitamin D. Der Rest wird über die Nahrung aufgenommen. Allerdings kommt Vitamin D nur in wenigen Lebensmitteln vor. Am höchsten ist die Konzentration in fetten Meeresfischen wie Lachs, Makrele und Hering. Aber auch Leber, Eigelb und einige Speisepilze enthalten Cholecalciferol, wenngleich in deutlich geringerer Menge.
Vitamin D reguliert im Körper den Kalzium- und Phosphatstoffwechsel, fördert den Knochenaufbau und stärkt die Muskeln. Ein Mangel davon kann zu gesundheitlichen Problemen führen. Zu den Symptomen gehören dauerhafte Erschöpfung, schlechte Wundheilung, Muskel- und Rückenschmerzen, Haarausfall, gehäuftes Auftreten von Infektionskrankheiten. Bei einem schweren Mangel an Vitamin D leiden Erwachsene bisweilen an Knochenerweichung und Kinder an Rachitis.
Seit Jahren wird vornehmlich im Internet darüber informiert, dass ein Defizit an Vitamin D auch mit anderen Krankheiten in Zusammenhang stehe oder deren Entstehen begünstige. Am häufigsten genannt hierbei werden Grippe, Gefäßerkrankungen, Diabetes, Depressionen, multiple Sklerose sowie chronische Schmer- zen. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte die vorbeugende Wirkung von Vitamin D bei diesen Krankheiten jedoch nicht bestätigt werden. 2014 hat ein Forscherteam um Goran Bjelakovic von der University of Niš in Serbien 18 Studien mit insgesamt 50 000 Teilnehmern zum Thema Vitamin D und Krebs ausgewertet. Diese hatten eine Laufzeit von bis zu sieben Jahren. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: Für die Häufigkeit von Krebs war es unerheblich, ob die Probanden vorher Vitamin-DPräparate geschluckt hatten oder nicht. Auch spielte es keine Rolle, ob der Vitamin-D-Spiegel der untersuchten Personen anfangs niedrig oder normal war und ob diese die Nahrungsergänzungsmittel nur über wenige Monate oder mehrere Jahre eingenommen hatten.
Wissenschaftler vermuten ohnehin, dass ein niedriger Cholecalciferol-Spiegel nicht die Ursache vieler Erkrankungen, sondern deren Folge ist. Denn kranke oder depressive Menschen ziehen sich häufig zurück und vermeiden längere Aufenthalte im Freien. Dadurch wiederum kann ihr Körper nicht genügend Vitamin D bilden.
Obwohl es bis dato keine belastbaren Hinweise darauf gibt, dass Vitamin D vor Krebs und anderen Erkrankungen schützt, greifen immer mehr Menschen zu Vitamin-D-Tabletten aus der Apotheke. In Deutschland sind es derzeit über zwei Millionen. Im Jahr 2017 wurde mit dem Verkauf von Vitamin-D-Präparaten ein Umsatz von 177 Millionen Euro erzielt. Zu den meistverkauften Mitteln gehört »Vigantol« von Merck. Das Darmstädter Unternehmen ist Marktführer bei frei verkäuflichen VitaminD-Präparaten und bewirbt diese mit dem Hinweis, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit Vitamin D unterversorgt sei.
Hierzu erklärt Birgit Niemann vom Bundesinstitut für Risikobewertung: »Wir teilen die Ansicht, dass es in Deutschland einen flächendeckenden Vitamin-D-Mangel gebe, ausdrücklich nicht.« Von einem Mangel könne man erst dann sprechen, wenn bei Menschen entsprechende Symptome nachweisbar seien. Weitverbreitete Mangelerscheinungen habe es früher zum Beispiel bei Jod gege- ben. Bei Vitamin D sei das aber nicht der Fall.
Vitamin D als Tablette einzunehmen, ist zwar nicht unbedingt schädlich, aber nur selten sinnvoll. »Eine klare Therapie mit Vitamin D ist bei Neugeborenen gegeben«, sagt Helmut Schatz von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Sie diene der Rachitis-Prophylaxe. Bei Menschen mit chronischen Darmerkrankungen, bei denen die Gefahr einer Knochenschädigung bestehe, sei der therapeutische Einsatz von Cholecalciferol ebenso angezeigt wie bei Patienten mit schweren Nierenerkrankungen. »Alle anderen Begründungen für eine Vitamin-D-Einnahme sind spekulativ.«
Da nicht genutztes Vitamin D im Körperfett gespeichert wird, ist prinzipiell auch eine CholecalciferolÜberdosierung möglich. Mögliche Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Kopf- und Gliederschmerzen und Austrocknung. Allerdings bedarf es hierzu einer exzessiven Einnahme von Vitamin-D-Präparaten. Bei sachgemäßer Anwendung der in Apotheken erhältlichen Tabletten besteht das Risiko einer Überdosierung nicht. Es gibt jedoch Berichte aus den USA, wonach Personen, die hoch dosiertes Vitamin D über das Internet bezogen hatten, an Nierenversagen erkrankten.
Vitamin D als Tablette einzunehmen, ist zwar nicht unbedingt schädlich, aber nur selten sinnvoll.