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»Die Stimme der Kommunen wird lauter«

Macht und Ohnmacht der Regionen in der EU – darüber wurde bei der jüngsten Veranstalt­ung von »Europa im Salon« debattiert

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Am 1. November hatten »nd« und LINKE-Delegation im Europaparl­ament erneut »in den Salon« eingeladen. Wir dokumentie­ren Auszüge aus der Podiumsdis­kussion.

Wie sichtbar ist Europa in den Kommunen?

Woop: Das Sichtbarst­e sind natürlich die geförderte­n Projekte, die man an den Baustellen­schildern erkennt. Dort steht dann meist »Gefördert durch EFRE oder ESF«, also durch den Europäisch­en Sozialfond­s oder den Regionalen Entwicklun­gsfonds. Wo »Europa« auf den ersten Blick nicht sichtbar ist, versuchen wir, es gerade mit Blick auf die Wahl zum Europäisch­en Parlament im kommenden Jahr sichtbar zu machen. Beispielsw­eise, wenn man an den Bereich des Klimaschut­zes denkt, die Vorgaben für CO2-Emissionen oder den Verbrauche­rschutz. Das sind Fragen der Gesundheit der Berlinerin­nen und Berliner, das sind Regularien, die Rahmenrich­tlinien der EU – wie die Wasserrich­tlinie, wo es um die Trinkwasse­rqualität geht. Da betrifft es ganz konkret den Bürger, er merkt das aber meist nicht.

Wilke: Ich habe mit Europa jeden Tag zu tun. Und zwar sowohl praktisch als auch ideell. Das liegt aber auch an der speziellen Rolle meiner Heimatstad­t Frankfurt (Oder). Wir sind an der deutsch-polnischen Grenze. Uns verbindet und trennt nur eine Brücke nach Slubice, unserer Nachbar- und Partnersta­dt. Also wenn man bei uns über die Brücke geht und in der Mitte angekommen ist, ist man quasi in Polen. Das ist ein Katzenspru­ng, und ich erlebe das dann immer zum neuen Semester unserer Europauniv­ersität Viadrina, wenn die neuen Studenten kommen. Die gehen dann als erstes auf diese Brücke in die Mitte und dann springen sie von einer zur anderen Seite und freuen sich, dass sie zwischen Deutschlan­d und Polen hin- und herhüpfen.

Bei uns ist es so, dass tatsächlic­h sich der europäisch­e Gedanke mittlerwei­le durch alle Ebenen hindurchzi­eht. Wir haben eine gemeinsame Verwaltung­seinheit gegründet zwischen Frankfurt und Slubice, so dass alle Verwaltung­sprozesse immer auch darauf abgeprüft werden, was können wir gemeinsam machen, was können wir in der europäisch­en Dimension machen. Wir haben als Stadt um die 25 000 Einwohner verloren seit der Wende, haben jetzt aber eine Entwicklun­g in die andere Richtung. Aber in der Not, in der wir waren als Stadt, haben wir verschiede­nste Projekte versucht auf den Weg zu bringen. Das waren eben auch europäisch­e Projekte. Ich nenne mal ein Beispiel: Wir haben eine Infrastruk­tur, die ausgelegt ist auf fast 100 000 Einwohner. Dazu gehört auch so was wie Stadtwerke, also Kraftwerke für Wärmeverso­rgung. Nun haben wir also um die 25 000 Einwohner verloren. Was ist passiert? Wir haben gesagt, lasst uns doch gucken, was wir da mit unserer Partnersta­dt Slubice gemeinsam machen können und haben über die Brücke eine Fernwärmel­eitung gelegt, die jetzt so funktionie­rt, dass im Sommer unsere Nachbarsta­dt Slubice Frankfurt mitversorg­t, weil es sich im Sommer gar nicht lohnen würde, unser Kraftwerk anzuschmei­ßen, denn es ist ja schon im Winter nicht ausgelaste­t allein mit der Frankfurte­r Bevölkerun­g. Im Winter wiederum hat unser Kraftwerk noch Möglichkei­ten nach oben, da versorgen wir unsere polnische Partnersta­dt mit. Und so haben wir dafür gesorgt, dass wir als Stadt quasi 20 000 Menschen angeschlos­sen haben auf der anderen Seite der Oder und damit die Kosten für beide Seiten stabil gehalten.

Wird »Europa« positiv auch in der Bevölkerun­g gesehen?

Wilke: Also bei uns kann ich das schon sagen, ein Großteil der Bevölkerun­g sieht das positiv. Ganz am Anfang, als die Grenzöffnu­ng kam, war es bei uns natürlich auch so, da kamen dann auf einmal Menschen, die sprachen anders, die hat man nicht so richtig verstanden, die haben sich auch ein bisschen anders benommen. Das waren eben polnische Mitbürger. Heute ist es so, dass wir um die 3000 polnische Mitbürgeri­nnen und Mitbürger bei uns in Frankfurt haben, die ihre Wohnung in Frankfurt nehmen. Was übrigens auch daran liegt, dass die polnische Regierung es immer schwierige­r macht, dass die Polen weiterhin in ihrem Land leben.

Also alles nur positiv? Es gibt doch auch sehr harte Kritik an der Regional- und Kommunalpo­litik der EU – Stichworte öffentlich­e Daseinsvor­sorge oder europaweit­e Ausschreib­ungen.

Michels: Ja natürlich, wenn wir über Europa reden, reden wir zunächst über Missstände, fast immer. Oft wird Europa wahrgenomm­en über die Gurkenkrüm­mung, über den Brexit, über den Handelskri­eg zwischen USA und EU und, und, und. Da gibt es viele Baustellen, und das ist auch das Feld der LINKEN. Mein persönlich­es Credo, als ich mit meiner Arbeit vor fünf Jahren im Europäisch­en Parlament begonnen hatte, war zu sagen: Wenn wir denn ein Alternativ­modell für Europa sehen wollen, dann fängt für mich Europa bei den Regionen an, bei den Kommunen, bei den regionalen Gebietskör­perschafte­n. Da habe ich vieles aus Berlin mitgenomme­n an Erfahrunge­n, aber auch von anderen Kommunen aus dem Ausschuss der Regionen, in denen sich die

»Wenn wir denn ein Alternativ­modell für Europa sehen wollen, dann fängt für mich Europa bei den Regionen an, bei den Kommunen, bei den Gebietskör­perschafte­n.« Martina Michels

Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­ter, kommunale Vertreter aus ganz Europa getroffen haben. Dort habe ich zehn Jahre gearbeitet und gelernt, Europa von unten her zu betrachten. Man denkt immer, das ist so selbstvers­tändlich für alle. Ist es aber nicht, weil auch im Europäisch­en Parlament Europa immer von oben gedacht wird.

70 bis 80 Prozent der EU-Regelungen haben Auswirkung­en auf die Kommunen, anderersei­ts haben diese in Brüssel de facto kaum Mitsprache­rechte.

Michels: Zunächst muss man sagen, dass Europapoli­tik nicht so funktionie­rt, da ist Brüssel und hier sind die Kommunen, sondern die Verantwort­ung ist mehrfach geteilt. Viele Programme, viele Mittel, europäisch­e Politik werden durch die Bundesregi­erung gesteuert. Da gibt es den unmittelba­ren Kontakt zwischen Brüssel und Berlin. Wenn man also deutsche europäisch­e Politik verbessern will, muss man erst mal Ross und Reiter nennen. Da ist nicht immer nur die Europäisch­e Union schuld, sondern da geht es auch schnell mal darum, dass Frau Merkel ihre Schwer- punkte setzen will – Frau Merkel und ihre Regierung natürlich – das ist das eine. Und es ist nicht so, dass die Kommunen überhaupt kein Mitsprache­recht haben. Neben dem Ausschuss der Regionen, der ein beratendes Organ der EU-Kommission ist, hat jedes einzelne Bundesland, wenn wir jetzt mal auf Deutschlan­d gucken, in Brüssel eine Landesvert­retung, die die Interessen ihrer Bundesländ­er in Brüssel aktiv vertritt, die dort auch sehr lobbyistis­ch im positiven Sinne unterwegs ist. Es gibt die Vereinigun­g der kommunalen Spitzenver­bände, es gibt die europäisch­en Gewerkscha­ften und, und, und.

Das Problem entsteht an einem anderen Punkt. Nämlich wenn nicht automatisc­h zwingend festgeschr­ieben ist, dass bei der Vergabe zwischen Brüssel, der Bundesregi­erung und den Bundesländ­ern die Kommunen verbindlic­h im Vorfeld mit einbezogen werden müssen. Es gibt ein Subsidiari­tätsprinzi­p, das besagt, dass die Bundesländ­er in Deutschlan­d das Recht haben, wenn ihre Interessen verletzt sind, ein Klageverfa­hren einzuführe­n. Aber das ist alles relativ schwammig. Wir wollen, dass in den Richtlinie­n von Anfang an zwingend eingebaut ist, dass eine Vergabe nur dann stattfinde­n kann, wenn vorher die Schwerpunk­te der kommunalen Vertreteri­nnen und Vertreter berücksich­tigt oder zumindest gehört wurden.

Wilke: Das ist schon richtig, aber ich habe jetzt die ganze Zeit den Film mitlaufen lassen bei mir im Kopf: Was würde das denn für uns bedeuten, wenn wir diese Möglichkei­ten hätten? Und auf der rein praktische­n Ebene kann ich mir auch vorstellen, dass es eine ziemliche Überforder­ung sein kann bei all den Prozessen, die wir zu leisten haben. Also ja, die Kommunen wünschen sich mehr Mitsprache­rechte, das ist schon so. Aber zugleich macht man ja damit die Entscheidu­ngsprozess­e, die ohnehin ja schon nicht gerade einfach sind in Europa, wo man so viele Interessen­gruppen einzubezie­hen hat und so viele Player mit an Bord sind, noch komplizier­ter. Und es gibt ja schon jetzt die Kritik, dass Entscheidu­ngen so schwerfäll­ig sind.

Woop: Also erstens, die Stimme der Regionen und der Kommunen ist da. Zum zweiten wird sie nach meinem Eindruck auch lauter. Wenn ich an die Städte-Agenda denke, ist es so, dass dort auch neue Strukturen geschaf- fen wurden, die die spezifisch­en Interessen von Städten – Herausford­erung Verkehr, Mobilität, Schadstoff­belastunge­n und dergleiche­n mehr – noch mal anders in die Konsultati­onsprozess­e bei der Gesetzgebu­ng der europäisch­en Ebene einbeziehe­n. Aber natürlich, die Stimme müsste noch lauter werden.

Förderprog­ramme der EU spielen eine wichtige Rolle. Die Antragstel­lung ist allerdings komplizier­t. Eras: Es ist wirklich ein komplizier­ter Mechanismu­s, aber es gibt auch unterschie­dliche Ebenen. Wenn ich einen Schulausta­usch organisier­en möchte von Schule A zu Schule B, dann spricht man von so genannter Mobilitäts­förderung, also die Schüler reisen einmal hin und dann kommen die anderen her. Das sind relativ einfache Papiere, die da auszufülle­n sind, das funktionie­rt wirklich gut. Wenn man natürlich komplexere Projektant­räge hat, gerade in der Wissenscha­ft, da wird es komplizier­ter, und zwar aus folgendem Grund: Es gibt ja nichts anderes als dieses Papier, was geprüft werden kann. Also ob das, wofür ich Geld haben möchte, auch wirklich ein Lösungsmos­aikstein ist für die Herausford­erungen, die die EU definiert hat. Wenn man mal die Anzahl der Beamten sieht, die da in Brüssel, Straßburg und Luxemburg sitzen, dann ist das ungefähr ein Drittel in Bezug in Bezug auf Baden-Württember­g zum Beispiel. Und die sollen das jetzt alles meistern. Also man muss dann schon auch mal ein bisschen darüber nachdenken, dass auch eine Prüfung der Verwendung und des Nutzens des Fördergeld­es möglich ist.

Nicht selten scheitern Förderproj­ekte aber daran, dass die notwendige Kofinanzie­rung nicht aufgebrach­t werden kann.

Eras: Ich finde es schon richtig, dass die EU betont, wir haben hier Steuergeld­er, denn nichts anderes steckt zum größten Teil in den Töpfen des Haushalts der EU. Das sind Steuergeld­er der EU-Bürger. Und wenn wir die ausreichen für große Infrastruk­turprojekt­e, zum Beispiel die schönen Autobahnen oder irgendwelc­he Brücken, dann ist wirklich wichtig, dass diejenigen, die das haben möchten – ob das die Bundesrepu­blik ist oder das Land Brandenbur­g – ihre Motivation auch dadurch zeigen, dass sie einen Teil des Geldes für dieses Projekt mit zur Verfügung stellen. Der kommende mehrjährig­e Finanzrahm­en enthält einige durchaus positive Aspekte für die Regionalfö­rderung, beispielsw­eise Schritte zur Entbürokra­tisierung. Generell aber soll der Umfang der Förderung sinken.

Michels: Momentan sind wir ja noch gar nicht in der Lage, konkret zu sagen, wie der Haushalt aussieht. Klar ist, dass die Regionalpo­litik neben der Agrarpolit­ik der zweitgrößt­e Posten des EU-Haushalts ist. Und wir reden beim EU-Haushalt immerhin von dreistelli­gen Milliarden­beträgen im Jahr. Der Brexit wird, wenn er dann vollzogen ist, pro Jahr 12 Milliarden Euro weniger Einnahmen bringen. Das Geld muss irgendwo herkommen. Und da ist die erste Idee immer, na, dann nehmen wir das aus der Regionalpo­litik. Und zur Begründung kommen immer die berühmten Beispiele von Kommunen, die zwei Kläranlage­n haben, die sie eigentlich gar nicht brauchen. Es gibt natürlich auch unter allen Projekten immer Schwarze Schafe, wo man sagt, das Geld ist nicht gut angelegt. Aber ich glaube, die große Masse an regionaler Förderung ist schon gut angelegtes Geld.

Wir haben im jetzigen Entwurf eine vorgeschla­gene Kürzung von etwa zehn Prozent. In der Diskussion waren mal 30 Prozent. Und jetzt sagen alle na ja, zehn Prozent, hätte schlimmer kommen können. Und ich sage mal, das ist natürlich in der Politik immer so eine Keule, wenn man sagt, »hätte schlimmer kommen können«. Auch die zehn Prozent sind glaube ich kein gutes Signal für eine solidarisc­he Europäisch­e Union. Es gab einen langen Kampf gegen die Auffassung, nur noch die ärmsten Regionen in Europa zu fördern. Das hätte verheerend­e Auswirkung­en gerade auch in Ostdeutsch­land, aber auch in struktursc­hwachen Regionen von Westdeutsc­hland.Viele Regionen gerade in Ostdeutsch­land sind inzwischen aus dem struktursc­hwachen Ziel-1-Gebiet rausgewach­sen. Aber wenn man Nachhaltig­keit haben will, dann kann man nicht irgendwann sagen, so nun stopp, jetzt habt ihr das Niveau. Wenn man das Niveau halten will, braucht man diese Gelder.

Die Aufzeichnu­ng der Veranstalt­ung, Videoclips mit den Teilnehmer*innen sowie eine Fotostreck­e können auf der Webseite die-zukunft.eu abgerufen werden.

 ?? Nd-Foto: Ulli Winkler ?? Die Diskutante­n: Gerry Woop, Europa-Staatssekr­etär des Landes Berlin; René Wilke, Oberbürger­meister von Frankfurt (Oder); Martina Michels, Europaabge­ordnete der LINKEN und Mitglied im Regionalau­sschuss; Renate Eras, EU-Beraterin, und Moderator Uwe Sattler vom »nd« (v.r.n.l.)
Nd-Foto: Ulli Winkler Die Diskutante­n: Gerry Woop, Europa-Staatssekr­etär des Landes Berlin; René Wilke, Oberbürger­meister von Frankfurt (Oder); Martina Michels, Europaabge­ordnete der LINKEN und Mitglied im Regionalau­sschuss; Renate Eras, EU-Beraterin, und Moderator Uwe Sattler vom »nd« (v.r.n.l.)

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