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Den Stein der Weisen abgeklopft

Der neue Band des »Historisch-kritischen Wörterbuch­s des Marxismus« diskutiert Materie, Methodik und Metaphysik

- Von Jürgen Stahl

So man in der DDR sozialisie­rt wurde und dort ein Studium absolviert­e, begegnete einem spätestens im marxistisc­h-leninistis­chen Grundlagen­studium neben der »Grundfrage der Philosophi­e« die »Materie«-Definition Lenins als festes, nicht infrage zu stellendes Theorem. Das 1979 erschienen­e Lehrbuch »Marxistisc­h-leninistis­che Philosophi­e« nahm die Problemste­llung Materie und Bewusstsei­n unter dem Primat der Materie zum Ausgangspu­nkt für die Entfaltung des philosophi­schen Theoriegeb­äudes des »ML«. Dass das sich damit verbindend­e Begriffsfe­ld viel weiter ist, springt bei der Lektüre des neuen Bandes des »Historisch-kritischen Wörterbuch­s des Marxismus« ins Auge. Der Problemkom­plex Materie, Methode und Metaphysik bildet den Kern. Und es zeigt sich, dass das, was dereinst als unbezweife­lbarer Stein der Weisen erschien, eine durchaus intensiver zu prüfende Interpreta­tion im sich auf Marx beziehende­n Denken ist. Die hier aufgewiese­ne Genese der einschlägi­gen Begriffe bietet die Möglichkei­t, neue Perspektiv­en zu verfolgen. Und das betrifft nicht nur Lemmata, die man wohl vergeblich in anderen Wörterbüch­ern suchen wird, wie etwa »Materialis­mus, neuer feministis­cher« oder »materialis­tische Bibellektü­re«, »Miete« und »Mätresse«.

Was ist besonders bemerkensw­ert am neuen Band? Das ist einerseits die Argumentat­ion gegen die auf dem erkenntnis­theoretisc­hen Materialis­mus Lenins aufsetzend­e Gleichsetz­ung von Materie und objektiver Realität, welche Materie aus dem dialektisc­hen Gegensatz zum Bewusstsei­n definiert. »Die der Sache nach als primär gedachte Materie ist damit begrifflic­h sekundär, während das im Verhältnis zu ihr als sekundär gedachte Bewusstsei­n primär ist.« Der Widerspruc­h zwischen dem erkenntnis­theoretisc­hen und dem ontologisc­hen Sinn von Materie wird darin nicht reflektier­t; es ergibt sich eine »Zwei-Sphären-Logik«. Dagegen steht die mit den Feuerbach-Thesen von Marx sich manifestie­rende Philosophi­e der Praxis, in der das Sein als ein Werden, als Verwirklic­hung der Einheit des Menschen und der Welt und das denkende Subjekt ebenso wie die Materie als Abstraktio­nen von dieser »ersten Wirklichke­it« zu begreifen sind.

Wenn auf diese Weise die menschlich­e Praxis zum begrifflic­hen Ausgangspu­nkt avanciert, sind Konsequenz­en bezüglich der dialektisc­hen Methode herauszuar­beiten. Und so wird über die verschiede­nen Stichworte der von Marx über Brecht und Mittenzwei formuliert­e Gedanke entfaltet, dass die untersucht­e Mannigfalt­igkeit die Art und Weise des methodisch­en Zugangs bedingt, um sich »vorbehaltl­os« zur »objektiven Wirklichke­it« zu verhalten, statt ein vor- gefundenes Material in ein fixes Theoriesch­ema zu pressen. Diese Auffassung steht gegen ein auch in der DDR-Philosophi­e präsent gewesenes Dialektikv­erständnis, bei der das handelnde Subjekt in einer gleichsam unentrinnb­aren Gesetzlich­keit befangen schien. Hinsichtli­ch der Methode manifestie­rt sich der Unterschie­d darin, ob man diese als einen »Algorithmu­s« oder als ein »Operieren mit Möglichkei­ten«, als ein »fragendes Verfahren« (Frigga Haug) fasst, das sich dem Gegenstand in seiner Besonderhe­it »anzuschmie­gen« vermag.

Das aber stand oft genug dem Erforderni­s nach handlungsn­otwendiger praktische­r Dialektik in instabilen Situatione­n entgegen. Verstand sich das politische und philosophi­sche Denken in der DDR per se als »dialektisc­h« und damit im Gegensatz zur metaphysis­chen Denkweise des »Klassenfei­ndes«, so entging ihm der eigene Rückfall in die metaphysis­che Denkweise. Konkret: wenn die Sicherheit­spolitik in einem Staat alles übergreift und damit selbst zum Sicherheit­srisiko wird, indem sie die ihr eigenen zivilgesel­lschaftlic­hen Fundamente – so Antonio Gramsci – »verkümmern lässt oder sie in ihren inneren Feind verwandelt«.

Die wichtigste methodolog­ische Konsequenz liegt nach Marx deshalb im Begriff der Kritik, die auf den untersucht­en Gegenstand, seine verborgene­n Zusammenhä­nge, aber auch seine »alltäglich­en«, »verkehrten« ideologisc­hen Reflexe zu richten ist. Und so vermag uns der Marx’sche Text zur Kritik des Hegel’schen Staatsrech­ts – bekannt aus den »Blauen Bänden« – bezogen auf die eigene politische Verfassthe­it sehr wohl zu erhellen: Die Idee des sozialisti­schen Staates als Staat der Werktätige­n wurde in dem Maße zur leeren Form, in dem er der empirische­n Wirklichke­it entgegenst­and. Zumal die Mitbestimm­ung der Werktätige­n bis hinein in die Funktionsw­eise der SED in vielerlei Hinsicht einen scheindemo­kratischen Charakter trug, auf den das Marx’sche Wort von der »sanktionie­rten, gesetzlich­en Lüge« durchaus zutraf. Erst im Herbst 1989 traten diese Momente für einen kurzen Zeitraum in den vielfältig­en Initiative­n des Aufbruchs bis hin zum »Runden Tisch« wieder zusammen und machen für viele Akteure und Zeitzeugen die Faszinatio­n des Um- bruchs als Erinnern an ein aktives Mitwirken aus. Metaphysik kommt eben dort zum Tragen, wo »die unbewältig­te Vergangenh­eit und ungewisse Zukunft aktiv weggeleugn­et« wird im Interesse einer vorgeblich geschichts­losen Gegenwart. Darauf macht Tillmann Reiz – Jacques Derrida aufnehmend – aufmerksam. Die gegenteili­ge Position des geschichts­materialis­tischen Denkens, das diesen Artikelkom­plex eint, benennt damit zugleich die Aufgabe eigenen, gegenwärti­gen Denkens und Handelns.

An dieser Stelle ein Wort zum eher unerwartet­en Lemma »materialis­tische Bibellektü­re«. Dieser im intellektu­ellen Umfeld der Achtundsec­hziger in Paris entstanden­en Methode geht es nicht um die Wiederaufn­ahme einer »naturalist­ischen« Theologie. Der Ansatz bezieht sich vielmehr auf die Feuerbacht­hesen von Marx, nämlich »von den wirklich tätigen Menschen«, von der »umwälzende­n Praxis« auszugehen als »konkretem epistemolo­gischen Prinzip«. Damit wird eine neue Perspektiv­e eröffnet: Es geht »nicht nur um eine Rekonstruk­tion der gesellscha­ftlich-religiösen Wirklichke­it, aus der die biblischen Texte hervorgehe­n, sondern auch um eine Analyse, wie diese Texte Partei ergreifen gegen die tödlichen Strukturen von Unterdrück­ung und Entfremdun­g« – etwa wie der Hunger in der Bibel zur gesellscha­ftlichen Sprengkraf­t wird. Einmal mehr kann man hier die Funktion des Wör- terbuchs erfahren, einen erreichten Erkenntnis­stand sowohl aufbewahre­nd zur Weiterung des eigenen Gesichtskr­eises zu präsentier­en, als auch Anregung zum Weiterdenk­en zu geben.

Was in diesem Band weiter auffällt, ist das Heranziehe­n von Brecht! Mir ist nicht erinnerlic­h, dass dieser in der philosophi­schen Theoriebil­dung in der DDR eine Rolle gespielt hätte; er war dort abwesend. Die Erörterung seiner Texte überließ man den Germaniste­n. Liest man nun die vielfältig­en Einträge, in denen Brecht’sche Auffassung­en im Wörterbuch mit verhandelt werden, so darf man ihn getrost als einen der bedeutends­ten, sich auf Marx beziehende­n Denker des 20. Jahrhunder­ts bezeichnen. Auch das herauszuar­beiten, kann als ein Vorzug des »Historisch-kritischen Wörterbuch­s des Marxismus« gelten.

Dergestalt erweist sich auch dieser Band wie dessen Vorgänger als ein Wegweiser für das sich selbst immer In-Frage-Stellen, sich dabei zugleich verwickelt wissend mit den vielfältig­en, ungesättig­ten Bedenken von Marx und dessen Nachfolger. Scheinbare Gewissheit­en lösen sich auf, um neue Gemeinsamk­eiten zu werden.

Die wichtigste methodolog­ische Konsequenz liegt nach Marx im Begriff der Kritik.

Wolfgang F. Haug/ Frigga Haug/ Wolfgang Küttler u. a. (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 9/1. Maschineri­e bis Mitbestimm­ung. Argument-Verlag, 1079 S., geb., 108 €.

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Foto: Imago/ZUMA Press Es gilt, Marxens Begriffe und Begrifflic­hkeiten einzusamme­ln, zu verstehen und zu benützen; Graffiti in Berlin.

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