Rätsel Wittgenstein
Vielen gilt Ludwig Wittgenstein selbst als Rätsel – nicht zuletzt, wenn er sagt: »Das Rätsel (der Welt) gibt es nicht.« (Tractatus 6.5) Der Schlüssel zu wenigstens einem der Schlösser an diesem Rätsel befindet sich in einem Begriff, an dem Wittgenstein nicht zufällig viel lag, nämlich in dem Begriff der Familienähnlichkeiten ...
Dabei handelt es sich um eine Familie, der es aufgrund ihres Reichtums, aber auch aufgrund ihres Selbstvertrauens als Gruppe gelang, ihre eigene Welt zu schaffen mitsamt eigenem Versorgungssystem, eigenen Werten und eigener Klientel (im altrömischen Sinn der clientela). Dabei wurden Personen jeden Standes – Maler, Musiker, Studenten, Freunde und Bekannte jeglicher Couleur – eingeladen, beschützt, angestellt, unterstützt, mit einem Wort: einverleibt. Wittgenstein führte seine Freunde – unter anderem Engelmann, Hänsel und Koder – in diesem Kreis ein, und im Regelfall wurden sie zu Freunden und Schützlingen aller Angehörigen. Er selbst schloss dort Freundschaften, die sozusagen bereits angebahnt waren und wenigstens einmal fand er in diesem Kreis eine geliebte Freundin.
Er war zwar kein Anhänger eines bestimmten Glaubens, wohl aber ein Wittgenstein. Hier stieß er auf das von ihm selbst mitentwickelte Ethos des Immer-denschwierigen-Weg-Wählens, die (im Fall naher Verwandter besonders ausgeprägt) Unduldsamkeit gegenüber allem, was als moralische Schwäche wahrgenommen wurde ... Eine strenge Welt also, über deren Eingangstor ein Schwert schwebte, aber dennoch war es ein Garten Eden, der sich durch Wärme, Zuneigung, Vertrauen und Teilnahme auszeichnete. Das waren die positiven Aspekte der manchmal verletzenden Direktheit.
Aus der Einleitung des von Brian McGuinness und Radmila Schweitzer herausgegebenen Bandes »Wittgenstein. Eine Familie in Briefen« (Haymon, 383 S., br., 29,90 €).