Das Kreuz aus dem Wrack eines Flüchtlingsbootes
Neil MacGregor hat sich unter die Götter begeben und berichtet über die Menschen
Wer Hüter eines solchen Fundus war, kann aus dem Vollen schöpfen. Neil MacGregor war fünfzehn Jahre lang Direktor der National Gallery in London, anschließend für zwölf Jahre Direktor des British Museums, bis er einer der Gründungsintendanten des Humboldt-Forums in Berlin wurde. Das deutsche Publikum liegt ihm seit dem Erfolg seiner »Geschichte der Welt in 100 Objekten« zu Füßen. Jetzt erzählt er vom »Leben mit den Göttern« in einem großformatigen, opulent mit hinreißenden Bildern ausgestatteten Prachtband.
Wer hier eine Religionsgeschichte erwartet, wird enttäuscht; wer einen anthropologischen Blick auf das Leben der Menschen werfen will, wird sehr viel Interessantes und Überra- schendes entdecken. Der Mensch, der eben »nicht vom Brot allein lebt«, hat seit der Steinzeit enorme Ressourcen darauf verwendet, sein Leben und die natürlichen Vorgänge zu befragen, zu interpretieren und zu gestalten. Dabei spielen »die Götter« eine zentrale Rolle, die nicht dieser Welt angehören. Der Mensch leistet sich in allen Gesellschaften einen Ruhetag in der Woche, er leistet sich Bauwerke wie den Kölner Dom zum Umgang mit »den Göttern«, er entwickelt Rituale zur spirituellen Bewältigung seiner Sorgen und Bedürfnisse.
Dieses ganze Spektrum behandelt der 1946 im schottischen Glasgow geborene Autor und hat dabei die Schatzkammern »seiner« Museen in London geöffnet und viele auf Reisen gewonnene Bilder hinzugefügt.
Gleich am Anfang bewundert er die aus Elfenbein geschnitzte, in einer Höhle bei Ulm gefundene Figur des Löwenmenschen als ersten künstlerischen Ausdruck einer fiktionalen Verwandlung natürlicher Anschauung. Etwa 40 000 Jahre ist dieses Beispiel alt, dem er am Ende seines Buches ein ergreifendes Kreuz gegenüberstellt. Es hat dann auf dem Hochaltar der berühmten St. Paul’s Cathedral gestanden. Francesco Tuccio, Zimmermann aus Lampedusa, hat das Kreuz aus angespülten Wrackteilen eines 2013 zerschollenen Flüchtlingsbootes gefertigt. Damals ertranken 311 Migranten aus Somalia und Eritrea. Den Einwohnern von Lampedusa gelang es, 155 zu retten.
Nicht alle Beispiele in dem schönen Buch sind so dramatisch. Es geht vielfach um Alltägliches, um Rituale anlässlich der Geburt, des Erwachsenwerdens oder des Todes von Menschen. Beispiele aus Gesellschaften aus aller Welt, aus vielen Religionen mit einem oder auch mit mehreren Göttern. Es bilden sich Gemeinschaften für diese Rituale, Gemeinden. Sie beten, wenden sich an Gott oder auch an sich selbst, knien nieder. Ein wunderbares Beispiel eines jahrhundertealten elfenbeinernen Hilfsmittels zur Orientierung nach Mekka – wichtig für die fünf obligatorischen Gebete der Muslime – stammt aus der Türkei.
Ein ganzes Kapitel widmet sich der sakralen Musik, die vor allem im protestantischen Gottesdienst entwickelt wurde und im gemeinsamen Gesang der Gemeinde ihren Höhepunkt erlebt. MacGregor wagt einen Sprung in eine andere Welt der »Vergötterung« durch Gesang und Mitsingen: »Es ist in der Tat ein betörender Gedanke – Woodstock und das Glastonbury Festival als unerwartete, späte Blüten des protestantischen Sonntags.«
Wenn der Autor über »das Kunstwerk in seiner spirituellen Reproduzierbarkeit« anhand von Artefakten nachdenkt, die »Festzeiten« einläutet oder wenn er die Veränderung der Zehn-Dollar-Note der USA im Jahre 1956 reflektiert, die den Aufruck »In God we trust« erhielt – immer zieht er überraschende, manchmal hochaktuelle Karten aus einem Fächer, der so üppig bestückt ist. Immer regt er zum Nachdenken an, immer unterhält er in Text und Bild. Am Ende wissen wir viel mehr über den Menschen als über die Götter – aber um sein Leben geht es ja eigentlich.
Neil MacGregor: Leben mit den Göttern. A. d. Engl. v. Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel. C. H.Beck, 542 S., geb., 39,95 €.