Der Hunger des Narzissten
Geld, Macht, Lüge, Politik, Alter, Tod: Der Film »Loro« beschäftigt sich mit Silvio Berlusconi
Es ist bemerkt worden, dass das Sujet Silvio Berlusconi doch längst verbrannt sei. Ich denke, da liegt ein Missverständnis vor. Wenn der italienische Filmregisseur und Schriftsteller Paolo Sorrentino einen Film über Berlusconi macht, will er nichts anderes als bei einem über Andreotti: eine geschichtliche Figur verstehen, und dazu muss er sie in ihrer Besonderheit zeigen. Als politisches Kampfmittel käme der Film »Loro« zu spät. Tatsächlich kommt er viel zu früh, denn Italien steckt mit der Hälfte seines Stiefels noch immer in dieser Epoche.
Der Titel weist auf mehr. »Loro« bedeutet »sie« in der 3. Person Plural. Man sieht Menschen, die sich um einen Narren sammeln, ihn bewundern, nachahmen, sich an ihn heranschmeißen, ihm zu Diensten sind und im Ensemble eine Blase bilden, die den Einbildungen des alten Mannes einen Status von Wirklichkeit verschafft. Diese gezüchtete Welt bleibt aber eine Scheinwelt, weil sie sich von der sozialen Wirklichkeit ablöst. Das gibt dem Film etwas Gespensterhaftes, und Sorrentino, der visuellste aller Regisseure, erzählt das nicht nur, er zeigt es auch. Über seine Figuren sagt er: »Sie sind widersprüchlich: Einerseits verhalten sie sich völlig vorhersehbar, andererseits sind sie nicht zu erforschen.«
Die Abhängigkeit ist beidseitig. Silvio (Toni Servillo) brauche, sagt seine Ehefrau Veronica (Elena Sofia Ricci), »immer jemanden bei sich«, und sie wirft ihm vor, bis ins private Leben »eine ununterbrochene Inszenierung« zu sein. Sorrentino nennt Berlusconi einen »unermüdlichen Erzähler seiner selbst«. Das trifft den echten wie die Figur. »Er« überlässt es nicht seinen Handlungen, sich als ein Bestimmter zu erweisen, und liefert unablässig die Interpretation seines Treibens mit. Er will der mächtigste Italiener sein und trotzdem von allen geliebt werden. Was natürlich unmöglich ist, aber den unstillbaren Hunger des Narzissten ausdrückt, der instinktiv davon ausgeht, dass der Tag kommen müsse, an dem endlich ein jeder seine Grandiosität wird eingesehen haben. Verwoben wird dieser Komplex dann mit einem Thema, das sich durch alle Filme Sorrentinos zieht: der Angst vor dem Altern und dem Tod. Am Verfall des Körpers erlebt der mächtige Mann, dass er schließlich doch ist wie jeder andere.
Nicht nur deswegen kann man »Loro« als typischen Sorrentino-Film beschreiben, denn auch formal hält er mit seinen Vorgängern Schritt. Wir begegnen Toni Servillo wieder, dessen Spielweise, an Brecht geschult, den Gestus vor das Gefühl stellt. Die Augenlider gesenkt, mit eingefrorenem Lächeln, verkörpert er einen Menschen, der sich im Herzeigen abschottet. Die stabile Kamera verhin- dert nicht Dynamik. Es wird nie chaotisch, alles ist geometrisch und in gleichmäßiger oder gleichmäßig beschleunigter Bewegung, wie etwa der Fluchtpunktzoom, den Sorrentino schon in seinem Politdrama »Il Divo« (2008) benutzt hat. Die Perspektive im Raum wird selbst zum Thema. Daher sieht man verhältnismäßig selten Close-ups und häufig die Totale. Der Zuschauer scheint jederzeit das Gefühl für die Szene behalten zu sollen.
Die Dialoge sind scharfsinnig und witzig wie je. Dennoch fällt »Loro« gegenüber früheren Filmen Sorrentinos ab. Es wird viel geredet, viel gezeigt, doch wenig erzählt. Die reine Personendramaturgie, die bereits die Komödie »La Grande Bellezza« (2013) etwas eingetrübt hatte, ist hier noch stärker ausgeprägt.
Um »ihn«, Berlusconi, eine Weile zurückzuhalten, werden zu Beginn des Films nur »sie«, die »Verführten«, gezeigt: eine Handvoll Karrieristen und Provinzpolitiker, unter ihnen der schmierige Geschäftsmann Sergio. Nach 30 Minuten erst tritt die Figur Silvio Berlusconi auf. Das Spiel mit Charisma durch Abwesenheit ist allerdings vorbei, sobald beide Handlungen sich begegnen und der Autor dann mit der einen von beiden nichts mehr anzufangen weiß. Überhaupt geht es zu wie auf einem Bahnhof: Ständig kommen und gehen Personen, sodass die Erzählung episodischer wirkt, als sie eigentlich ist. In den Episoden kommt der Film oft zur Hochform. Etwa wenn Silvio sich eines Nachts seiner selbst versichern will, indem er irgendeine Nummer wählt, um der Frau am anderen Ende unter falschem Namen ein Produkt zu verkaufen, das sie nicht braucht und er nicht hat.
Unnachgiebig wird das Motiv des Verkäufers bemüht. Silvio sei ein Präsident, der sich immer noch verhalte wie ein Verkäufer. Ein Verkäufer, führt sein Freund Ennio aus, sei der einsamste Mensch der Welt, weil er nie zuhöre und immer bloß rede. Beim Verkauf gehe es darum, das eigene Bedürfnis zum Bedürfnis der anderen zu machen. Mit diesem Politikbegriff operiert der Film »Loro« durchgängig. »Eine Wahrheit«, sagt Silvio seinem Enkel, »ist das Ergebnis des Tons und der Überzeugung, mit der wir sie aussprechen.« Es geht nicht darum, ob es stimmt, »wichtig ist nur, dass du mir geglaubt hast«.
Indem Populismus und Intrige ins Zentrum gerückt werden, interessiert nur die abstrakte Seite der Macht. Inhalte finden, sieht man von wenigen Hinweisen auf libertäre Gesinnungen und Antikommunismus ab, nicht statt. Was nicht verwundert im Angesicht der sozialen Unvollständigkeit, die Sorrentinos Werk von jeher kennzeichnet. Anders als Matteo Garrone lässt er seine Handlungen ausschließlich in der Oberschicht leben. Statt die gesamte Gesellschaft zu fassen, betreibt er eine Dekonstruktion des Bürgerlichen, das ihn jedoch durch die Kritik hindurch immer auch fasziniert. Das größte Wunder bei alldem ist, dass Totalität dennoch stattfindet. Der Vergleich mit Thomas Mann drängt sich regelrecht auf. Hier wie dort Probleme alter Herren, die ins Anthropologische verklärten Sorgen des spätbürgerlichen Subjekts, High Society, Alter, Krankheit, Tod, und all das ästhetisch vollendet ins Werk gesetzt. Und, ebenfalls wie bei Mann, dennoch entsteht ein kaum erklärbar realistischer Zugriff auf die Zeit, der weit über sie hinaussteigt.
Eine Voraussetzung des Realismus ist Unerbittlichkeit. Wer zur Anschauung bringen will, was vorliegt, darf keine Rücksicht nehmen. Auch gegen sich selbst nicht. Es gibt einen Grad allerdings, ab dem diese Unerbittlichkeit in Affirmation umschlägt und aus dem genauen Zeigen dessen, was ist, Bewunderung wird. Schon immer trafen in Sorrentinos Werk alte Männer und junge Frauen aufeinander, und schon immer fiel es schwer, zu entscheiden, ob es sich um Sexismus oder Sexismuskritik handelt. In »Loro« wird das, bedingt durch das Berlusconi-Sujet, besonders zudringlich.
Gewiss gehört zum Milieu der kulturellen und politischen Eliten jenes Verhältnis von jungen schönen Frauen, die ihren Körper als Kapital einsetzen, um aufzusteigen, und alten hässlichen Männern, die all das, was diese Frauen wollen, bereits haben, bloß nicht das eine, das sie an ihnen begehren. Dies komplementäre Verhältnis von Innerlichkeit und Äußerlichkeit scheint vom Regisseur zugleich mit Ekel und Genuss beschrieben, etwa in einer Szene zwischen Silvio und Stella, einer ihm zugeführten jungen Frau, worin er sie anfleht, mit ihm zu schlafen, und damit das Einzige verliert, das Begehren auslösen konnte: Macht und Dignität. Auch Sorrentinos visuelle Ästhetik verliert an den betreffenden Stellen durch den allzu gedehnten Gebrauch pornografischer Mittel. Statt Schönheit sehen wir dann bloß Attraktivität.
Eine Voraussetzung des Realismus ist Unerbittlichkeit. Wer zur Anschauung bringen will, was vorliegt, darf keine Rücksichten nehmen.
»Loro – Die Verführten«, Italien/Frankreich 2017. Regie: Paolo Sorrentino; Darsteller: Toni Servillo, Elena Sofia Ricci, Riccardo Scamarcio. 145 Min.