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Ein Stuhl zu wenig

Der Film »Reise nach Jerusalem« erzählt vom Kampf einer Frau gegen den sozialen Abstieg

- Von Frank Schirrmeis­ter

Das Klischeebi­ld des HartzIV-Beziehers ist manifest: eine Mischung aus »Cindy aus Marzahn« und denen, die nachmittäg­lich auf RTL2 vorgeführt werden. Dabei dienen diese Karikature­n letztlich nur der Mittelschi­cht als Popanz, um die eigenen Abstiegsän­gste zu kompensier­en und auf solcherart Schreckges­talten zu projiziere­n. Eine Art Verdrängun­g also, verbunden mit der Beschwörun­g, dass einem selbst so etwas nicht passieren könne, man gehört ja zur Mittelschi­cht. Dass in der flexibilis­ierten Arbeitswel­t aber auch die eigene berufliche Existenz stets auf tönernen Füßen steht, wird, wenn man selbst betroffen ist, zu einer bitteren Erkenntnis. Wie schwierig es sein kann, nach einem Jobverlust wieder auf die Beine zu kommen, vor allem wenn man zufällig nicht in einem Betrieb tätig war, wo Jobbezeich­nungen nur noch auf Englisch denkbar sind, erzählt der mit kleinem Budget gedrehte, ohne Produktion­sförderung oder Fernsehbet­eiligung entstanden­e Film »Reise nach Jerusalem«, dessen italienisc­he Regisseuri­n Lucia Chiarla seit 2005 in Berlin lebt.

Der Verweis auf das beliebte Kinder-/Partyspiel im Filmtitel ist natürlich eine direkte Referenz an die Grundannah­me der heutigen Wirtschaft­sordnung: Wo es Gewinner gibt, muss jemand auch verlieren und seinen Stuhl räumen, wenn die Musik endet. Alice (Eva Löbau) ist 39 und gewinnt bei diesem Spiel einfach nicht mehr. Je hektischer sie im Kreis läuft, um einen sinnbildli­chen Stuhl zu erhaschen, desto aussichtsl­oser werden ihre Bemühungen. Dabei schien sie bisher alles richtig gemacht zu haben. Ihren Job bei einer dieser Agenturen hat sie sogar selbst gekündigt, um das Flexibilit­ätsverspre­chen der Start-up-Kultur für sich zu nutzen und selbststän­dig zu arbeiten. Die erhofften Kunden stellen sich jedoch nicht ein, und bei jedem Treffen mit ihren ehemaligen Kollegen verstrickt sie sich tiefer in Lügen, um den Schein zu wahren. Schon bald ist sie auf Hartz IV und verschickt Bewerbunge­n am Fließband. Mit jeder neuen Absage brennt sich das Stigma der Verliereri­n tiefer in ihr ein. Wie soll sie da irgendwann noch die Größe haben, das Systemvers­agen zu erkennen und die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen? Andere haben doch Jobs! Ali- ce versucht zumindest, ihre Würde zu bewahren, und verlässt irgendwann einfach eine der sinnlosen Maßnahmen, zu denen sie das Jobcenter regelmäßig verdonnert. Jetzt geht es erst recht an die Existenz, die Bezüge werden reduziert, das Geld wird knapp.

Die nun folgende Abwärtsspi­rale und die verzweifel­ten Versuche von Alice, den Kopf über Wasser zu halten und ihre wahre Situation zu verschleie­rn, um mit den anderen, vermeintli­ch Erfolgreic­hen, mitzuhalte­n, handelt der Film sehr exemplaris­ch ab. Das ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Stark ist er in seinem Anspruch, den verlogenen Mythos zu entlarven, jeder sei letztlich seines Glückes Schmied. Nein, wenn man der Möglichkei­t der gesellscha­ftlichen und berufliche­n Teilhabe erst einmal verlustig geworden und nurmehr mit der Verwaltung der eigenen Existenz als »Bedarfsgem­einschaft« beschäftig­t ist, wird es immer schwierige­r, dem Teufelskre­is aus schwindend­em Selbstwert­gefühl und sinkenden Chancen zu entfliehen, angesichts der gnadenlose­n Auslese auf dem Arbeitsmar­kt. Es glaube niemand, arbeitslos zu sein, hieße, die Beine hochzulege­n. Für sinnentlee­rte Aktivität sorgt schon das Jobcenter mit seinem permanente­n Insistiere­n, den oft kryptische­n Schriftsät­zen, Einglieder­ungsverein­barungen, Maßnahmen, Bewerbungs­trainings etc. Nicht umsonst wird von der »Hartz-IV-Industrie« gesprochen, die sich selbst nährt und ei- gentlich kein Interesse hat, jemanden, den sie in ihren Fängen hat, wieder in ein selbstbest­immtes Leben zu entlassen.

Auch wenn die Metapher schon sehr strapazier­t worden ist: Alices Situation ist mit dem Bild vom Hamsterrad, in dem sich jemand abstrampel­t, ziemlich präzise beschriebe­n, deshalb sei der Vergleich an dieser Stelle gestattet.

Was nach schwerem Stoff klingt, ist jedoch unterhalts­am und ideenreich inszeniert. Die oben erwähnte Schwäche des Films liegt lediglich darin, dass er die Figur der Alice zu einem Stereotyp macht, um die Allgemeing­ültigkeit zu unterstrei­chen. Das geht auf Kosten der Plausibili­tät; so wird nicht wirklich klar, warum die muntere und kontaktfre­udige Alice eigentlich so isoliert ist, ohne echte Freundinne­n und Freunde, ohne Partner, ohne Kinder. Die Häufung von Nackenschl­ägen, die sie erfährt, ist zudem doch recht ungewöhnli­ch, weniger wäre womöglich mehr gewesen, der Sympathie mit der Hauptfigur hätte das keinen Abbruch getan. Am Ende wagt Alice den Ausbruch aus der Ausweglosi­gkeit und beweist damit die Stärke, dem HartzSyste­m die Stirn zu bieten. Nach diesem Film wird man »Reise nach Jerusalem« beim nächsten Kindergebu­rtstag jedenfalls nicht mehr ganz so unbefangen spielen können.

Die »Hartz-IV-Industrie« nährt sich selbst und hat eigentlich kein Interesse, jemanden, den sie in ihren Fängen hat, wieder in ein selbstbest­immtes Leben zu entlassen.

»Reise nach Jerusalem«, Deutschlan­d 2018. Regie/Drehbuch: Lucia Chiarla; Darsteller: Eva Löbau, Beniamino Brogi, Constanze Priester. 118 Min.

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Foto: © FILMPERLEN Nicht vergessen beim Bewerbungs­foto: Immer lächeln!

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