Ein Stuhl zu wenig
Der Film »Reise nach Jerusalem« erzählt vom Kampf einer Frau gegen den sozialen Abstieg
Das Klischeebild des HartzIV-Beziehers ist manifest: eine Mischung aus »Cindy aus Marzahn« und denen, die nachmittäglich auf RTL2 vorgeführt werden. Dabei dienen diese Karikaturen letztlich nur der Mittelschicht als Popanz, um die eigenen Abstiegsängste zu kompensieren und auf solcherart Schreckgestalten zu projizieren. Eine Art Verdrängung also, verbunden mit der Beschwörung, dass einem selbst so etwas nicht passieren könne, man gehört ja zur Mittelschicht. Dass in der flexibilisierten Arbeitswelt aber auch die eigene berufliche Existenz stets auf tönernen Füßen steht, wird, wenn man selbst betroffen ist, zu einer bitteren Erkenntnis. Wie schwierig es sein kann, nach einem Jobverlust wieder auf die Beine zu kommen, vor allem wenn man zufällig nicht in einem Betrieb tätig war, wo Jobbezeichnungen nur noch auf Englisch denkbar sind, erzählt der mit kleinem Budget gedrehte, ohne Produktionsförderung oder Fernsehbeteiligung entstandene Film »Reise nach Jerusalem«, dessen italienische Regisseurin Lucia Chiarla seit 2005 in Berlin lebt.
Der Verweis auf das beliebte Kinder-/Partyspiel im Filmtitel ist natürlich eine direkte Referenz an die Grundannahme der heutigen Wirtschaftsordnung: Wo es Gewinner gibt, muss jemand auch verlieren und seinen Stuhl räumen, wenn die Musik endet. Alice (Eva Löbau) ist 39 und gewinnt bei diesem Spiel einfach nicht mehr. Je hektischer sie im Kreis läuft, um einen sinnbildlichen Stuhl zu erhaschen, desto aussichtsloser werden ihre Bemühungen. Dabei schien sie bisher alles richtig gemacht zu haben. Ihren Job bei einer dieser Agenturen hat sie sogar selbst gekündigt, um das Flexibilitätsversprechen der Start-up-Kultur für sich zu nutzen und selbstständig zu arbeiten. Die erhofften Kunden stellen sich jedoch nicht ein, und bei jedem Treffen mit ihren ehemaligen Kollegen verstrickt sie sich tiefer in Lügen, um den Schein zu wahren. Schon bald ist sie auf Hartz IV und verschickt Bewerbungen am Fließband. Mit jeder neuen Absage brennt sich das Stigma der Verliererin tiefer in ihr ein. Wie soll sie da irgendwann noch die Größe haben, das Systemversagen zu erkennen und die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen? Andere haben doch Jobs! Ali- ce versucht zumindest, ihre Würde zu bewahren, und verlässt irgendwann einfach eine der sinnlosen Maßnahmen, zu denen sie das Jobcenter regelmäßig verdonnert. Jetzt geht es erst recht an die Existenz, die Bezüge werden reduziert, das Geld wird knapp.
Die nun folgende Abwärtsspirale und die verzweifelten Versuche von Alice, den Kopf über Wasser zu halten und ihre wahre Situation zu verschleiern, um mit den anderen, vermeintlich Erfolgreichen, mitzuhalten, handelt der Film sehr exemplarisch ab. Das ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Stark ist er in seinem Anspruch, den verlogenen Mythos zu entlarven, jeder sei letztlich seines Glückes Schmied. Nein, wenn man der Möglichkeit der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe erst einmal verlustig geworden und nurmehr mit der Verwaltung der eigenen Existenz als »Bedarfsgemeinschaft« beschäftigt ist, wird es immer schwieriger, dem Teufelskreis aus schwindendem Selbstwertgefühl und sinkenden Chancen zu entfliehen, angesichts der gnadenlosen Auslese auf dem Arbeitsmarkt. Es glaube niemand, arbeitslos zu sein, hieße, die Beine hochzulegen. Für sinnentleerte Aktivität sorgt schon das Jobcenter mit seinem permanenten Insistieren, den oft kryptischen Schriftsätzen, Eingliederungsvereinbarungen, Maßnahmen, Bewerbungstrainings etc. Nicht umsonst wird von der »Hartz-IV-Industrie« gesprochen, die sich selbst nährt und ei- gentlich kein Interesse hat, jemanden, den sie in ihren Fängen hat, wieder in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen.
Auch wenn die Metapher schon sehr strapaziert worden ist: Alices Situation ist mit dem Bild vom Hamsterrad, in dem sich jemand abstrampelt, ziemlich präzise beschrieben, deshalb sei der Vergleich an dieser Stelle gestattet.
Was nach schwerem Stoff klingt, ist jedoch unterhaltsam und ideenreich inszeniert. Die oben erwähnte Schwäche des Films liegt lediglich darin, dass er die Figur der Alice zu einem Stereotyp macht, um die Allgemeingültigkeit zu unterstreichen. Das geht auf Kosten der Plausibilität; so wird nicht wirklich klar, warum die muntere und kontaktfreudige Alice eigentlich so isoliert ist, ohne echte Freundinnen und Freunde, ohne Partner, ohne Kinder. Die Häufung von Nackenschlägen, die sie erfährt, ist zudem doch recht ungewöhnlich, weniger wäre womöglich mehr gewesen, der Sympathie mit der Hauptfigur hätte das keinen Abbruch getan. Am Ende wagt Alice den Ausbruch aus der Ausweglosigkeit und beweist damit die Stärke, dem HartzSystem die Stirn zu bieten. Nach diesem Film wird man »Reise nach Jerusalem« beim nächsten Kindergeburtstag jedenfalls nicht mehr ganz so unbefangen spielen können.
Die »Hartz-IV-Industrie« nährt sich selbst und hat eigentlich kein Interesse, jemanden, den sie in ihren Fängen hat, wieder in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen.
»Reise nach Jerusalem«, Deutschland 2018. Regie/Drehbuch: Lucia Chiarla; Darsteller: Eva Löbau, Beniamino Brogi, Constanze Priester. 118 Min.