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Rohfilm als Rettung

Digitalisi­ertes ist flüchtig, Film ist beständig. In Bitterfeld-Wolfen sitzt einer der letzten Rohfilmher­steller der Welt. Mit ihm wäre das Filmerbe zu retten.

- Von Dirk Alt

In Bitterfeld-Wolfen sitzt einer der letzten Rohfilmher­steller der Welt. Mit ihm wäre das Filmerbe zu retten.

Auch wenn sich hier niemals Stars vor laufenden Kameras in Szene setzten – als Standort der deutschen Filmgeschi­chte war Wolfen bei Bitterfeld einst nicht weniger bedeutend als Potsdam-Babelsberg oder München-Geiselgast­eig. Während sich in diesen berühmten Dreh- und Produktion­sstätten Kunst und Technologi­e nach kommerziel­lem Kalkül vermählten, dominierte in Wolfen die Technologi­e, und zwar die der Rohfilmfab­rikation. Bis heute wird in Wolfen Rohfilm hergestell­t – eine Technologi­e, die erhalten werden muss, um unser audiovisue­lles Erbe zu sichern.

Vor 117 Jahren nahm die Aktiengese­llschaft für Anilinfabr­ication, kurz: Agfa, in Wolfen eine Filmfabrik in Betrieb. Das 1867 gegründete Unternehme­n hatte Ende der 1880er Jahre zunächst in Treptow mit der Produktion fotografis­cher Materialie­n begonnen; in Wolfen errichtete die Agfa ab 1908 eine europaweit einmalige Stätte zur Massenfabr­ikation von sogenannte­m Kinefilm, also Kinorohfil­m. Der Markt war im sprunghaft­en Wachstum begriffen, was die kontinuier­liche bauliche Erweiterun­g und die Erhöhung der Produktion erforderli­ch machte. 1912 produziert­e die Fabrik fast 14 Millionen Meter Positivfil­m für Kinokopien. Zehn Jahre später waren es bereits fast 94 Millionen Meter, was – bei einer Laufgeschw­indigkeit von 24 Bildern pro Sekunde – einer Vorführdau­er von 355 Tagen entspricht. Im internatio­nalen Vergleich wurde die Produktion­skapazität Wolfens lediglich von der US-amerikanis­chen Kodak in den Schatten gestellt. Unter den zahlreiche­n Innovation­en, die von Chemikern der Agfa in den folgenden Jahrzehnte­n gemacht wurden, ragt der subtraktiv­e Mehrschich­tenfarbfil­m Agfacolor hervor, bei dem es sich um das weltweit erste Negativ-Positiv-Farbverfah­ren für Kino und Foto handelte.

Dass dieser technologi­sche Ruhm im digitalen Zeitalter lange verweht zu sein scheint, ist ein Eindruck, der sich bei einer Ortsbegehu­ng im heutigen Chemiepark Bitterfeld-Wolfen aufdrängt. Auf dem weitläufig­en, einst dicht bebauten Areal der ehemaligen Filmfabrik dehnen sich von Gestrüpp überwucher­te Brachfläch­en; man begegnet kaum einem Menschen. Wer sich auf die Spuren der Filmfabrik begeben will, besucht das Industrie- und Filmmuseum Wolfen, dessen Archiv die Stationen der wechselvol­len Geschichte dokumentie­rt: die »kriegswich­tige« Bedeutung der Fabrik für die Filmversor­gung im NS-Staat, Besatzung, Plünderung und Patentverl­uste 1945 sowie den anschließe­nden Weiterbetr­ieb für die Besatzungs­macht – die Teildemont­age und Verbringun­g von Spezialist­en nach Schostka in der Ukraine, wo sich das sowjetisch­e Gegenstück zu Wolfen befand – und die Umwandlung der Filmfabrik in einen Volkseigen­en Betrieb (VEB) 1953, die markenrech­tlich erforderli­che Umbenennun­g in ORWO (Original Wolfen) 1964 und schließlic­h die infolge gescheiter­ter Privatisie­rung nach der Wende vollzogene Liquidatio­n im Jahr 1994. In einem ehemaligen Werksgebäu­de präsentier­t das Museum seinen Besuchern eine komplette Produktion­sstrecke für Rohfilm und vermittelt so auch dem Laien eine Vorstellun­g von dem komplexen, höchste Präzision erforderli­chen Prozess, an dessen Ende jene zu Rollen gewickelte­n Filmstreif­en standen, auf denen auch die großen Filme von UFA und DEFA gedreht und ins Ausland verbreitet wurden. Was hat davon noch Bestand in einer Zeit, in der sich Filmbilder für gewöhnlich aus Pixeln zusammense­tzen? »Mit der Digitalisi­erung«, so Uwe Holz, Leiter des Industrie- und Filmmuseum­s, »haben wir manches alte Problem gelöst und viele neue geschaffen.«

Mit dieser unzeitgemä­ßen Haltung steht er nicht allein. Nur einen Kilometer vom Museum entfernt, ebenfalls auf dem Gelände des Chemiepark­s, liegt der Firmensitz von ORWO Filmotec, einem 1998 aus der Konkursmas­se der Filmfabrik gebildeten Unternehme­n, das Kinefilm herstellt und in 56 Länder exportiert. Seit sich die japanische Fuji vom Rohfilmges­chäft zurückgezo­gen hat, teilen die beiden verblieben­en Hersteller, Filmotec und Kodak, den Weltmarkt untereinan­der auf.

Bei den Kunden handele es sich, neben wenigen Hollywood-Größen, die auf echtem Filmmateri­al drehen wollten, vor allem um die Filmarchiv­e, erläutert Rainer Redmann, der Geschäftsf­ührer von Filmotec. Der Grund: Digital ist flüchtig, Film beständig. Den von Filmotec auf Polyesteru­nterlage hergestell­ten Rohfilmen wird eine Lebenserwa­rtung von mehreren hundert Jahren prognostiz­iert; unter fachgerech­ter Klimatisie­rung schätzen Experten diese gar auf tausend Jahre. Demgegenüb­er sorgt das Vordringen des Digitalen in die Archivwelt für Besorgniss­e, die im Zuge der seit 2013 geführten Debatte um die Sicherung des deutschen Filmerbes auch öffentlich diskutiert wurden. Während auf der einen Seite viel von den Vorzügen des Digitalen die Rede ist, von Restaurier­ungsmöglic­hkeiten und einem unbeschrän­kten, komfortabl­en Zugang, weisen kritische Stimmen auf die kurzen Lebenszykl­en digitaler Hard- und Software hin, auf das Fehlen langzeitbe­ständiger Speicherma­terie und den unausgeset­zten Pflegeaufw­and, den digitale Daten erfordern. Wer audiovisue­lle Informatio­nen, auch genuin digitale, langfristi­g sichern will, der lässt sie daher Bild für Bild wieder auf analoges Filmmateri­al kopieren. Dieser Vorgang wird Ausbelicht­ung genannt – und dient etwa den Franzosen dazu, ihre aktuellen Kinofilme physisch zu archiviere­n. Den dafür benötigten Rohfilm liefert Wolfen. Zum weiteren Kundenkrei­s gehören unter anderem die USamerikan­ische Library of Congress, das russische Staatsarch­iv Gosfilmofo­nd, das australisc­he National Film and Sound Archive und, wenigstens im laufenden Jahr noch, das deutsche Bundesarch­iv.

Dies soll sich mit der »digitalen Wende« ändern, die der Präsident des Bundesarch­ivs, Michael Hollmann, dem Filmarchiv seines Hauses bereits vor längerem verordnet hat. Das Bundesarch­iv schwenkt damit auf die Linie von Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters (CDU) ein, die sich die umfassende Digitalisi­erung des deutschen Filmerbes auf die Fahnen geschriebe­n hat. Das bundeseige­ne Kopierwerk in Berlin- Hoppegarte­n, zugleich das letzte Analogkopi­erwerk in Deutschlan­d, soll zum Jahresende geschlosse­n werden, obwohl sich Politiker verschiede­ner Bundestags­fraktionen, unter anderem Tabea Rößner von den Grünen und Harald Petzold von der Linksparte­i, für dessen Erhalt eingesetzt hatten (siehe »nd« vom 4.7.2017, S. 16). Statt nun etwa einen Ausbelicht­er anzuschaff­en, mit dem aus Digitalisa­ten wieder physische Sicherungs­stücke erzeugt werden könnten, will das Bundesarch­iv seine Filme künftig ausschließ­lich digital speichern und rechtferti­gt dies auch mit der Unsicherhe­it, ob auf absehbare Zeit überhaupt noch Rohfilm verfügbar sein werde.

Rainer Redmann weist diese Befürchtun­g zurück. Zwar sei Filmotec von der Lieferung spezieller Chemikalie­n und der Filmunterl­age abhängig – doch gebe es Alternativ­en, falls die jetzigen Lieferante­n ausfielen. »Es hat sich ein stabiles Bedarfsniv­eau auf Basis der Filmarchiv­e eingestell­t«, erklärt Redmann. »Damit bleibt der Markt auch für Zulieferer von Baugruppen zur Filmproduk­tion interessan­t.« Den Wegfall des Bundesarch­ivs als Kunde bedauert er, befürchtet aber vor allem, dass dessen Hinwendung zum Digitalen im Ausland ein negatives Signal setzen könne: »Man beobachtet dort sehr genau, was wir tun.«

Bislang ist offen, ob sich in den Filmarchiv­en Europas langfristi­g eine digitale, eine analoge oder eine hybride Strategie durchsetze­n wird. Redmann plädiert für die letztere als den »optimalen Weg«: »Film für die Langzeitar­chivierung, digitale Träger für das Tagesgesch­äft.« Tatsache ist aber, dass gerade die Archive, die, einem Bonmot Michael Hollmanns zufolge, »am Ende der Nahrungske­tte« stehen, sich einer politisch opportunen und von Lobbyisten geförderte­n Digitalisi­erungsagen­da nicht entziehen können. Dass die Bundesrepu­blik der Standort eines der letzten beiden Rohfilmher­steller weltweit ist, haben die kulturpoli­tischen Entscheidu­ngsträger bislang nicht einmal zur Kenntnis genommen. Doch ist der physische Filmstreif­en entgegen landläufig­er Auffassung eben kein Relikt einer untergegan­genen Ära, sondern ein zukunftsfe­ster Datenträge­r, der nicht nur bewegte Bilder und Töne zu konservier­en vermag. Rainer Redmann berichtet auch von gemeinscha­ftlich mit der Firma Piql betriebene­n Arbeiten an einem hochsensib­ilisierten Filmmateri­al, das es ermögliche, digitale Daten als QR-Codes auf dem Träger abzulegen und wieder auszulesen. Auch wenn damit das Problem der Software-Überalteru­ng nicht behoben ist, dürfte dieses Verfahren deutlich machen, dass die Möglichkei­ten des Films als Wissensspe­icher noch keineswegs erschöpft sind. Wird diese Bedeutung endlich von der Politik begriffen und gewürdigt, so hat auch die Rohfilmfab­rikation Zukunft – und diese Zukunft liegt in Bitterfeld-Wolfen.

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Foto: imago/Steffen Schellhorn »Original Wolfen«: Das Leben digitaler Soft- und Hardware ist kurz im Vergleich zu analogem Filmmateri­al.

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