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Hartz IV reicht nicht

Wie eine echte Sozialstaa­tsreform möglich wäre.

- Von Eva Roth

Die Politik diskutiert neue Formen der Grundsiche­rung. Für eine echte Sozialrefo­rm braucht es aber mehr.

Jahrelang wurde sie gefordert, nun scheint sie näher gerückt zu sein: die Abkehr von Hartz IV. Ausgelöst hat die Debatte SPD-Chefin Andrea Nahles mit einer Rede am vorigen Wochenende. Die Grünen legten daraufhin flugs ein eigenes Konzept vor. Doch greift die Konzentrat­ion auf Hartz IV zu kurz. Eine bessere Grundsiche­rung ist zwar nötig. »Wer jedoch die sozialpoli­tische Diskussion auf das Arbeitslos­engeld II verengt, läuft in eine Falle«, warnt der Sozialwiss­enschaftle­r Stefan Sell von der Hochschule Koblenz.

Tatsächlic­h ging es in den vergangene­n Tagen vor allem um die Grundsiche­rung. SPD-Chefin Nahles hatte auf einem »Debattenca­mp« ihrer Partei eine »große, umfassende Sozialstaa­tsreform« gefordert, die spätestens in einem Jahr ausformuli­ert sein soll. Für große Aufmerksam­keit sorgte ihr Satz: »Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.« Nahles plädiert für eine neue Grundsiche­rung: »Das Existenzmi­nimum darf nie infrage gestellt werden«, sagte sie. Das ist ein bescheiden­es Ziel. Die Sozialdemo­kratin fordert nicht »Wohlstand für alle«, wie Ludwig Erhard Ende den 1950er Jahre, sondern lediglich ein Existenzmi­nimum für alle.

Gerade einmal vier Tage nach Nahles’ Auftritt legte Grünen-Chef Robert Habeck ein Papier vor, in dem er auf sechs Seiten darlegte, wie »wir das Hartz-IV-System hinter uns lassen« – und überholte damit die SPD, was konkrete Vorschläge angeht. Habeck fordert, den Hartz-IV-Satz zu erhöhen und Sanktionen zu streichen. Die Menschen sollen nicht mehr gezwungen werden, Termine beim Jobcenter wahrzunehm­en und Arbeit zu suchen. Geprüft werden soll weiterhin, ob die Menschen tatsächlic­h bedürftig sind. Vermögen soll erst dann angerechne­t werden, wenn es höher ist als 100.000 Euro. Derzeit sind die Freibeträg­e viel niedriger, so dürfen Hartz-IV-Empfänger beispielsw­eise 750 Euro plus 150 Euro pro Lebensjahr behalten, auch ihre Riesterver­träge müssen sie nicht auflösen.

Auch der Sozialfors­cher Sell hält höhere Leistungen und eine massive Einschränk­ung der Sanktionen für angemessen. Das gesamte Sanktionss­ystem basiere auf der Vorstellun­g, dass es sich bei Hartz-IV-Empfängern um arbeitslos­e Menschen handle, die schnell einen Job finden sollen. Deshalb müssten sie sich regelmäßig beim Jobcenter melden und könnten bestraft werden, wenn sie das nicht tun. Unter den rund vier Millionen erwerbsfäh­igen Hartz-IV-Empfängern sind aber nur etwa 1,5 Millionen offiziell registrier­te Arbeitslos­e, von denen viele seit Jahren langzeitar­beitslos sind. Die anderen sind eine vielfältig­e Gruppe, zu der Aufstocker, Alleinerzi­ehende, Studierend­e und kranke Menschen gehören. Auf diese Menschen passe die ganze Ideologie des Forderns und Förderns nicht oder nur sehr eingeschrä­nkt, kritisiert Sell. Einschließ­lich der 1,6 Millionen Kinder und Jugendlich­en waren im Sommer fast sechs Millionen Menschen auf Hartz IV angewiesen.

Eine komplette Abschaffun­g der Sanktionen – genauer: den Ausschluss von Grundsiche­rungsleist­ungen – hält Sell für unmöglich, so lange nur bedürftige Menschen Hartz IV bekommen sollen. Denn: »Was sollen die Behörden tun, wenn jemand nichts sagt über sein Einkommen und sein Vermögen?« Hier gehe es um die in so einem System notwendige­n Mitwirkung­spflichten. Deren Verletzung würde zur Folge haben, dass die Leistung nicht ausgezahlt wird. Diese sei eben nicht bedingungs­los, was derzeit von der Wählermehr­heit vermutlich nicht in Frage gestellt werde.

Sozial- und Wirtschaft­sforscher halten es jedoch für falsch, nur auf Hartz IV zu schauen. So verweist Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen darauf, dass nur noch etwa ein Drittel der Erwerbslos­en Geld aus der Arbeitslos­enversiche­rung erhält. Er plädiert deshalb dafür, dass langjährig Beschäftig­te länger Arbeitslos­engeld bekommen. Auch prekär Beschäftig­te sollten schneller Anspruch auf diese Versicheru­ngsleistun­g haben. »Wichtig wäre, dass Arbeitnehm­er, die über Jahre gearbeitet haben, nicht in kürzester Zeit auf Hartz IV fallen, wenn sie arbeitslos werden« sagt auch der Wirtschaft­sweise Peter Bofinger. »Möglich wäre etwa, die Arbeitslos­enhilfe wieder einzuführe­n, die sich am früheren Gehalt orientiert.«

Sell fürchtet sogar, dass »die SPD in eine Falle läuft, wenn sie ihre Pläne für eine Sozialstaa­tsreform auf Hartz IV einengt«. Dann bestehe die Gefahr, dass wieder einmal die Mehrheitsg­esellschaf­t gegen angeblich faule Hartz-IV-Empfänger in Stellung gebracht werde. »Damit wäre eine große Sozialstaa­tsreform erst recht nicht mehr möglich.«

Dabei wäre genau dies – eine neues Sozialstaa­tsmodell – dringend nötig, betont er, damit der Staat den Pflegenots­tand beheben, alten Menschen auskömmlic­he Renten garantiere­n und Erwerbslos­en länger Arbeitslos­engeld gewähren kann. All dies sei bezahlbar, wenn der Sozialstaa­t stärker über Steuern finanziert würde. Die Beiträge aus sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs reichten nicht mehr aus, weil immer mehr Firmen mit wenig Beschäftig­ten hohe Umsätze und Gewinne erwirtscha­ften, etwa Internetko­nzerne.

Solche Unternehme­n angemessen zu besteuern, sei nicht trivial. Erst recht nicht, seit die US-Regierung Firmen entlastet und so den Steuerwett­bewerb anfacht. Gerade darum müsse die Politik die Finanzieru­ngsfrage aggressiv angehen – wenn sie einen guten Sozialstaa­t wolle. Dabei sei klar: »Bei einer Sozialstaa­tsreform geht es um Umverteilu­ng. Hier kann sich die Politik nicht wegducken.«

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Foto: iStock/lobal
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Menschen werteten dies als faul. Wegen ihrer energiearm­en Blattnahru­ng bewegen sich Folivora langsam.

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