Hart erkämpft
Vor 100 Jahren wurde der Achtstundentag eingeführt – unumkämpft war er nie.
Vor 100 Jahren wurde der Achtstundentag eingeführt. Heute ist er in Gefahr. Zum Beispiel in Österreich.
Am 15. November 1918 kann die Arbeiterschaft in Deutschland eine ihrer Forderungen realisieren, für die sie länger als ein halbes Jahrhundert gekämpft hat. Der gelernte Drechsler, langjährige Gewerkschafter und Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Carl Legien ringt den Großindustrieellen – geführt vom Aufsichtsratschef der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke, dem Ruhrmagnaten Hugo Stinnes – ein Abkommen ab, das den Arbeitstag in der deutschen Schwerindustrie auf acht Stunden begrenzen soll.
Diese Forderung hat die organisierte Arbeiterschaft bereits 1866 erhoben, auf dem Genfer Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation. Karl Marx hatte daran Anteil. Die »Haymarket-Affäre« um ein ungeklärtes Bombenattentat am Rande einer Kundgebung für den Achtstundentag in Chicago – in dessen Folge 1886 sieben Organisatoren derselben zum Tode verurteilt und drei hingerichtet werden – bildet den Auftakt zum 1. Mai als internationalem Arbeiterkampftag. Als 1893 der II. Kongress der Internationale in Zürich tagt, wo Friedrich Engels die Schlussrede hält, steht die Forderung weiterhin oben auf der Agenda.
Auch hierzulande wird immer wieder für den Achtstundentag gestritten. Bei allen größeren Streikaktionen in Deutschland nach der Jahrhundertwende spielt die Forderung eine Rolle. So 1905 im mehrwöchigen Ruhr-Bergarbeiterstreik, einem der bedeutendsten Massenstreiks vor 1914. Doch lehnen die Unternehmen mit ganz wenigen Ausnahmen wie etwa der »Deutschen Gold- und Silberscheideanstalt« (Degussa), die bereits 1884 in ihren Werken den Achtstundentag einführt, eine Arbeitstagsbegrenzung kategorisch ab – mit Rückendeckung der kaiserlichen Regierung, die arbeitsrechtliche Reformen prinzipiell verweigert.
Die als »Stinnes-Legien-Abkommen« in die Geschichte eingegangene Vereinbarung vom November 1918, mit dem die Unternehmensführungen auch den Achtstundentag akzeptieren, erklärt sich nur vor dem Hintergrund der Revolution: Der Kaiser hat erst Tage zuvor abdanken müssen. Ob die Revolution im Deutschen Reich so weit gehen wird wie die russi- sche im Oktober 1917, ob also auch hier eine baldige Verstaatlichung des Großkapitals ansteht, ist in jenen Tagen völlig offen. Angesichts dessen steht die deutsche Unternehmerschaft unter starkem Druck. Ihr Kompromiss lautet ungefähr so: Die Gewerkschaften akzeptieren das Weiterbestehen der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die Unternehmer erkennen sie im Gegenzug als legitime Vertretung der Arbeiterschaft an – und geben eben jener alten Forderung nach.
Mit den Verordnungen vom 23. November 1918 und 18. März 1919 wird der Achtstundentag dann auch Gesetz. Weil zugleich sehr viele andere Forderungen der Novemberrevolution unerfüllt bleiben, avanciert er geradezu zum Symbol der »Errungenschaften von 1918«. Doch seitens der Unternehmer wird dieser Kompromiss umgehend infrage gestellt, als klar ist, dass in Deutschland auch nach der Revolution die Herrschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich angetastet werden.
Die Reaktion ist massiv. Schon im Sommer 1922 setzt die süddeutsche Metallindustrie durch die monatelange Aussperrung von 250 000 Arbeitern eine Arbeitszeitverlängerung
Die Unternehmer stellen den Achtstundentag sofort infrage, als klar ist, dass auch nach der Revolution die Herrschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich angetastet werden.
durch: Man müsse die Produktionskosten senken, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden. Da sei Mehrarbeit wirtschaftlich geboten und patriotische Pflicht!
Dabei wird oft auf die Reparationsforderungen der Westmächte verwiesen. Um deren Erfüllung durchzusetzen, rücken im Herbst 1923 französische Truppen ins Ruhrgebiet ein. Deutschland muss zahlen und liefern, um diese Besetzung zu beenden. Stinnes, als Präsidiumsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie auch Teilnehmer der Reparationsverhandlungen, erklärt nunmehr zynisch: »Es ist höchste Zeit, dem deutschen Volk zu sagen, dass es nicht gleichzeitig einen Krieg verlieren und zwei Stunden weniger arbeiten kann.«
So wird der Achtstundentag zunehmend infrage gestellt. Im Dezember 1923 höhlt ihn die Regierung Gustav Stresemanns durch eine Verordnung aus, die viele Ausnahmen von der Achtstundenregel ermöglicht – für Bergarbeiter, Landarbeiter, Hausgehilfen und Heimarbeit. Unternehmer können nun in betrieblichen »Notfällen«, die sich in der Nachkriegskrise häufen, die Arbeitszeiten über das Gesetz hinaus ausweiten. Schon 1924 arbeiten nur noch zwei Fünftel der Beschäftigten tatsächlich nur die gesetzlich vorgegebenen 48 Wochenstunden.
Die wirtschaftliche Stabilisierung der mittleren 1920er Jahre gibt den Gewerkschaften wieder etwas bessere Aussichten, die Einhaltung des Achtstundentags durchzusetzen. Arbeiter, ar- gumentieren sie, haben ein Recht auf »ihr eigenes Leben als Menschen neben der Arbeit, nach ihrer Beendigung«. In einigen Branchen können sie den Übergang vom Zweischicht- zum Dreischichtsystem erreichen, sodass acht statt zwölf Stunden zur Regel werden. Doch insgesamt bleiben die Erfolge bescheiden.
So wird 1927 ein »Arbeitszeitnotgesetz« beschlossen, das zwar acht Stunden als »regelmäßige tägliche Arbeitszeit« festlegt, aber den Unternehmen erlaubt, längere Arbeitszeit zu fordern – bei entsprechendem Lohnausgleich. Und 1933 wird der Achtstundentag durch die von Hitlers »nationalsozialistischer Arbeiterpartei« dominierte Regierung wieder abgeschafft – während man zynischerweise im selben Jahr den mit der Achtstundenforderung historisch so eng verbundenen 1. Mai, der zuvor nur einmalig – nämlich 1919 – arbeitsfrei war, zum »Tag der nationalen Arbeit« ummünzt und dauerhaft zum gesetzlichen Feiertag macht.
1945 kehrt der Achtstundentag in die Ost- wie Westzonen zurück. In der DDR wird er im April 1950 gesetzlich verankert, für Jugendliche ist die tägliche Arbeitszeit noch um eine halbe beziehungsweise ganze Stunde kürzer. Im Westen schaffen zweieinhalb Jahrzehnte guter Konjunktur sowie die Konkurrenz der Systeme gute Kampfbedingungen für Gewerkschaften. Diese konzentrieren sich auf die Wochenarbeitszeit und setzen zwischen 1956 (Tabakindustrie) und 1983 – Landwirtschaft als letzte Nachzüglerin – die Fünftagewoche mit 40 Stunden allgemein durch. Als die DDR dieselbe 1967 gesetzlich einführt, werden in der BRD über alle Branchen im Schnitt 41,5 Stunden gearbeitet.
Auch nach dem Erlahmen des westdeutschen »Wirtschaftswunders« in den 1970er Jahren führen die Gewerkschaften erbitterte Kämpfe für weitere Arbeitszeitverkürzungen, etwa 1978/79 in der Stahlindustrie und 1984 in der Druck- und der Metallindustrie. Sie begründen diese Offensive damit, in der Konjunkturkrise durch kürzere Arbeitszeiten neue Stellen schaffen zu können. Im Ergebnis sinkt die regelmäßige Wochenarbeitszeit in einigen Branchen deutlich unter 40 Stunden, die angestrebten 35 Stunden als gesamtwirtschaftlicher Normalfall werden aber nicht erreicht. Und erkauft wird die kürzere Wochenarbeitszeit oftmals auch mit einer »Flexibilisierung« der Arbeitszeiten.
Diese »Flexibilisierung« ist auch der Kampfbegriff, mit dem seit der Jahrtausendwende – verstärkt seit den »Reformen« der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) – der Achtstundentag erneut ganz grundsätzlich infrage gestellt wird. Wie schon 1923 begründet man dies nicht zuletzt »national«, also mit der Stellung des »Standorts Deutschland« im weltweiten Konkurrenzkampf. Im November 2017 verkündet der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«, die »Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitstag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet«, sei obsolet. Man müsse »weg vom klassischen Arbeitstag«.
Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um diese uralte Forderung ist daher heute und zukünftig nicht minder aktuell als anno 1918.