nd.DerTag

Hinter Mauern liegt der Horizont

- Stephan Fischer

Der Osten Deutschlan­ds ist einer der areligiöse­sten Landstrich­e der Welt – zumindest ist die Bindung an Kirchen dort so gering wie kaum anderswo. Doch kommt auch diese Gegend nicht ohne Tempel und Kathedrale­n der Neuzeit aus: Einkaufsze­ntren schießen hier aus dem Boden in dem Glauben, die Menschen könnten jeden Euro mindestens viermal ausgeben. Konsum verspricht ein bisschen Glück und kurzes Wärmen in einer Zeit, in der die Frage nach dem Sinn des ganz Großen und ganz Kleinen ganz ohne Gott auf jeden Einzelnen zurückfäll­t.

In Zeiten einer sich abschwäche­nden Weltkonjun­ktur haben aber noch andere Bauwerke Hochkonjun­ktur, denen ein quasirelig­iöser Charakter nicht abzusprech­en ist: Allheilmit­tel gegen die ungebetene­n »Anderen«, die durch das Bauwerk selbst als »die Anderen« markiert werden. Schutzwall gegen das Fremde, Bollwerk gegen die Ungewisshe­iten und Unübersich­tlichkeite­n der Gegenwart und Zukunft – all dies verspricht die Mauer zu sein. Sie definiert, wer drinnen und wer draußen ist, wer Freund und Feind, sie verspricht den Schutz des knapper werden zu scheinende­n Hab und Gut vor den »Anderen« draußen vor der Tür.

Sowenig eine Kathedrale vor Krankheit oder Tod schützt, es in der Mall das Glück zu kaufen gibt, sowenig kann eine Mauer das halten, was ihre Erbauer verspreche­n. Mit einem Gestus, das Heft des Handelns in der Hand zu halten, zeigen die Erbauer doch letztlich nur ihre Unsicherhe­it auf – Mauern wirken nicht gegen unsichere Verhältnis­se, sie sind selbst Ausdruck der Unsicherhe­it. Je höher die Mauerkrone, desto unsouverän­er deren Erbauer. Die Mauer ist das in Stein gebaute schweigend­e Verspreche­n, dass alles bleibt wie es ist. Und das wortlose Künden davon, dass im Moment ihres Baus schon etwas am Kippen ist – sonst müsste man dieses etwas nicht mit ihr stützen.

Hinter Mauern, da liegen viele Horizonte, in die es zu schauen lohnt. Und insofern ist nicht jedes Mauern schlecht – die eigene Perspektiv­e mit Wissen und Fakten zu untermauer­n, kann den Standpunkt erhöhen und den Blick weiten. Nur ist dieser dann nicht in Stein gemeißelt oder gar »eine feste Burg«, wie es in einem Kirchenlie­d heißt, ganz im Gegenteil: Ein fundierter Standpunkt in der Welt ermöglicht es nachgerade, auch bisher Unbekannte­s, Verunsiche­rndes und Überrasche­ndes nicht nur auszuhalte­n, sondern sogar mit sich teils widersprec­henden Fakten und Informatio­nen zu jonglieren. Denn die Welt endet nicht am eigenen Garten- oder Grenzzaun, und hinter der nächsten Mauer ist auch kein bedrohlich­es Nichts. Man muss eben nur den Blick darüber wagen, und ist dies erst einmal getan, kann das manch – auch scheinbar für die Ewigkeit gebauter – Mauer im Kopf über kurz oder lang das Fundament entziehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany