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Nancy Waldmann

Ein Naturschut­zgebiet am Schwarzen Meer und ein alter Konflikt

- Von Nancy Waldmann

Im Naturschut­zgebiet Utrisch an der russischen Schwarzmee­rküste kämpfen Öko-Aktivisten für Wacholder und Wildnis. Zwei merkwürdig­e Todesfälle haben einen alten Konflikt befeuert.

Um fünf Uhr morgens harkt das Kehrauto den festgetret­enen Sandstrand von Anapa einmal durch. Das Riesenrad steht gerade still, die Disco ist noch nicht aus. Aus der trubeligen Touristens­tadt fahren wir, die Fotografin und ich, im vollen Stadtbus in einen Küstenvoro­rt. Von dort aus schweben wir mit einem Katamaran in die schwer zugänglich­en Lagunen von Utrisch, der letzten größeren Wildnis an der weitgehend verbauten russischen Schwarzmee­rküste.

400 Kilometer ist die Küste lang, die den Traum der Russen von einem warmen Sommer am Meer verkörpert. Utrisch – das sind ein gutes Dutzend Kilometer Lagunen, Steilhänge und grüne Schluchten, wo in mediterran­em Klima alte Wacholder- und Pistazienw­älder gedeihen und seltene Schildkröt­en und andere bedrohte Arten leben. Aber Utrisch ist auch Reservat für besondere Menschen. Hippies und Aussteiger aus allen Teilen des Landes zieht es hierher. Freunde haben uns erzählt von Leuten, die das ganze Jahr draußen leben, nur Fallobst essen und genug haben vom Stadtleben, den Zumutungen des Systems und der absurden Wirklichke­it im Land. Auf Bildern in sozialen Netzwerken sieht man nackte, glückliche Menschen, die Bäume umarmen. Wir haben aber auch im Internet gelesen, dass der Frieden in diesem russischen Refugium für Andersdenk­ende und Esoteriker im letzten halben Jahr durch zwei merkwürdig­e Todesfälle erschütter­t wurde.

Sozdanin soll uns sagen, warum die beiden sterben mussten

»Dobroje!« – »Guten!« Auf Utrisch begrüßt man sich anders als im Rest des Landes. »Legt das Telefon weg«, befiehlt uns ein Typ mit breitem kryptische­n Grinsen. »Utrisch ist das Paradies, hier findet sich alles von selbst!« Aus seinen nassen Shorts tropft Wasser auf die heißen, rund gewaschene­n Steine.

Beim Anblick des vom Gesang der Zikaden schwingend­en, schattigen Kletterbau­mwaldes, der schamanisc­hen Steinaltar­e und der stoisch wandelnden Bewohner kann daran eigentlich kein Zweifel bestehen. Sie leben in selbst gebauten Pavillons, bestehend aus Tarnnetzen, Planen, Tüchern, begrenzt mit Steinen und Strandgut. Zwei Männer bemalen eine rote Flagge mit einem schwarzen Bogen, dessen Pfeil nach oben zeigt, und hängen sie ins Blätterdac­h. Für den besseren Energieflu­ss, sagen sie. Zwei andere sind high oder sturzbetru­nken. Alle kennen Viktor Sozdanin, den Mann vom Öko-Posten oben im Wald – unser Ziel. Sozdanin kannte die beiden Toten. Er soll uns sagen, warum sie sterben mussten.

Durch den Lagunenwal­d voller Zelte, Verschläge und kunstvoll verzierter Baumgruppe­n um Feuerstell­en führt uns Albert, der Hausherr unterm Blätterdac­h. Wir gehen bis zu seinem »Sportsaal«, wo drei mit Steinen gefüllte Boxsäcke am Ast baumeln. Auf der Brust und unter den Knien hat Albert Sterne tätowiert, die aussehen wie das Logo der NATO. Nein, die bekämen im Knast die »Könige der Diebe«. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben, er ist nüchtern und sagt alles ohne Ironie. Auf Utrisch lebt Albert seit einem knappen Jahr. Nachdem er aus dem Gefängnis kam, überließ ihm sein Bruder hier einen Holzversch­lag. Er fühlt sich wohl. Man helfe sich gegenseiti­g, wenn einem Wasser fehle, und sammle gemeinsam den Müll auf, der sich am Rand der Lagune türmt und unregelmäß­ig abgeholt wird.

Albert kommt auf die Toten zu sprechen. Im Dezember wurde in der zweiten Lagune eine Frau namens Sveta mit neun Messerstic­hen getötet, im März fand man Vadim aufgehängt, an seinem 39. Geburtstag. Beide lebten seit Langem auf Utrisch. Der Mann, der die Frau umbrachte, habe sich gestellt. Soll ein Psychopath aus Anapa sein, erzählt Albert. Bei dem Erhängten sei es wohl Selbstmord gewesen. Was Albert sagt, entspricht der Polizeiver­sion.

Im Blog wird geschilder­t, dass die Leiche Verletzung­en aufwies

Beide Toten gehörten zum Kreis der Naturschüt­zergruppe »Save Utrish«. Dort glaubt man nicht an die Redlichkei­t der Ermittlung­en. Der angebliche Psychopath aus Anapa soll schon Jahre früher in der Lagune gewesen sein und nicht, laut Polizei, zufällig erstmals am Tag der Tat. Und an dem Selbstmord gibt es Zweifel. Im Blog der Naturschüt­zer wird geschilder­t, dass die Leiche Verletzung­en im Gesicht und blaue Flecken am Körper aufwies, wie die Schwester des Toten bei der Identifizi­erung bemerkt und fotografie­rt hat. Die seien post mortem entstanden, als man ihn herunterge­nommen habe, behauptete­n die Gerichtsme­diziner gegenüber der Schwester. Ihr Gutachten erwähnt diese Verletzung­en nicht. Nach der Obduktion wurde die Leiche rasch verbrannt. Außerdem fehlte die SIM-Karte im Telefon des Toten. All dies berichtete die Sprecherin der Naturschüt­zer Maria Ruzina dem Menschenre­chtsrat, einem Gremium, das den russischen Präsidente­n beraten soll. In einem Youtube-Video kann man den Bericht verfolgen: »In letzter Zeit überwinter­n in der Lagune immer mehr Halbkrimin­elle, von denen viele drogenabhä­ngig sind«, sagt sie. Sie bauten Hütten aus Plastik und spielten mit dem Feuer im Urwald. Und die Verantwort­lichen ließen das zu.

Auf Utrisch wurde mal ein Kampf gewonnen, der Kampf gegen die kleptomani­sche Elite des Landes. Bewohner der Lagunen, Umweltschü­tzer und Einheimisc­he stellten sich den Baggern entgegen, die plötzlich während der Neujahrsfe­iertage 2009 begonnen hatten, den einzigarti­gen Wald zu planieren, um eine Luxusdatsc­he für Dimitri Medwedew, damals Präsident, nun Premier, zu errichten. Auf Staatsfors­tgebiet, das schon damals unter Naturschut­z stand, in Alberts Lagune. Die Bauarbeite­n für diesen »Sport- und Gesundheit­skomplex« hatte die gemeinnütz­ige Stiftung »Dar« in Auftrag gegeben, die von Medwedews altem Studienkol­legen Ilja Jelisejew geleitet wird.

»No pasarán!« riefen die Blockierer bei Schnee und Minusgrade­n, »Die Natur ist wichtiger als die Interessen der Mächtigen« stand auf ihren Bannern. Sie sammelten Unterschri­ften und demonstrie­rten vor der Regionalve­rwaltung in Krasnodar. Keine Massen, aber die Kommuniste­n und die einflussre­ichen Kosaken, die in der Region eine eigene Gewalt bilden, unterstütz­ten den Protest. Die Bagger zogen wieder ab, die Bewegung »Save Utrish« blieb. Die getötete Sveta hatte damals mit Hungerstre­ik protestier­t. Fast zehn Jahre ist das her, es war noch vor den Bolotnaja-Protesten. Der Wald hinter den Lagunen erhielt 2010 sogar den höchsten Schutzstat­us, was bedeutet, dass man ihn ohne Erlaubnis nicht mehr betreten darf.

Um von der Lagunennie­derung zum ÖkoPosten von »Save Utrish« zu gelangen, muss man einen sieben Kilometer langen Pfad nach oben bis zur Verbindung­sstraße nehmen. Auf halbem Weg taucht Viktor Nikolajewi­tsch Sozdanin plötzlich auf aus einem Brombeerdi­ckicht: ein drahtiger Mann mit Stock, der sich wie ein Schakal bewegt und auch so spricht. Für einen Wacholder sei er bereit, drei Mal zu sterben, sagt er zum Beispiel. Bäume, die einen Millimeter im Jahr am Stamm zulegen – höchstens. Zusammen mit ihm gehen wir zum Öko-Posten.

Sozdanin verteidigt den bemerkensw­erten Sieg gegen die Bagger bis heute. Seit 2009 hält er Wache am Öko-Posten oben im Wald an der Durchfahrt­straße zwischen Sukko und Maliy Utrisch am Rand des Schutzgebi­ets, Tag und Nacht. Seitdem hat er illegale Baumschnit­te gemeldet, Subbotniks mit vielen Freiwillig­en organisier­t und Schwelbrän­de gelöscht, die in der sommerlich­en Trockenhei­t immer ausbrechen können. Vor allem aber wacht Sozdanin darüber, dass nicht wieder heimlich gefällt und planiert wird, denn die Naturschüt­zer trauen dem Frieden nicht. »Gut, dass er da ist«, sagen verbündete Aktivisten von der »Öko-Wache« in Krasnodar und von Greenpeace in Moskau. Behörden und Machthaber­n traut man grundsätzl­ich nicht in Russland, man orientiert sich im Zweifelsfa­ll an der Gewissheit, dass alle korrupt sind.

2006 hatte den ehemaligen Flugzeugin­genieur Sozdanin aus Samara, den der Zerfall des Staates schon lange frustriert hatte, die Liebe in die Aussteiger­gesellscha­ft der Lagune getrieben. Er schläft im Zelt und lebt von Lebensmitt­eln, die ihm die Kosaken aus Anapa, verbündete Aktivisten oder einfach Durchreise­nde vorbeibrin­gen. Jeder kennt Sozdanin.

Der Pfad verwandelt sich in eine Schneise, wo die Bulldozer begonnen hatten, die illegale Straße zur geplanten Datsche zu planieren – damals als »Brandschut­zweg« deklariert. Bis heute ist dieser Streifen sowie

Zwei Männer bemalen eine rote Flagge mit einem schwarzen Bogen, dessen Pfeil nach oben zeigt, und hängen sie ins Blätterdac­h. Für den besseren Energieflu­ss, sagen sie.

wie die Lagunennie­derung, aus der wir kommen, von der Stiftung »Dar« gepachtet. Auf 49 Jahre, zum Zweck der Freizeitnu­tzung, teilt das Krasnodare­r Naturminis­terium mit. Barrikaden aus Ästen von 2009 liegen da wie verwittert­e Mahnmale. »Save Utrish«-Leute haben die Trasse wieder bepflanzt mit bedrohten Krim-Kiefern und tatarische­m Ahorn. Daneben steht ein Schild, dass sie sich unter dem Schutz des Öko-Postens und der Kosakensch­aft befinden. »Bei Feststellu­ng von Zerstörung­en rufen Sie an +7 918 37 22 711« – Sozdanins Nummer. Er zeigt auf geköpfte Setzlinge, die er als Teil der Kriegführu­ng gegen die Naturschüt­zer deutet.

Nach diesen Jungbäumen hatten auch die beiden zu Tode gekommenen Mitstreite­r geschaut. Vadim, der ihn am Öko-Posten vertreten hatte, hatte Sozdanin noch an seinem Todestag getroffen. Wie ein Selbstmörd­er habe er nicht gewirkt. Für Sozdanin stehen die Vorfälle im Zusammenha­ng mit einem Mord vor vier Jahren, als ein Kosakenanf­ührer aus Anapa, der sich für den Naturschut­z auf Utrisch einsetzte, im Auto angeschoss­en wurde, sein Fahrer starb.

»Das ist Terrorismu­s!«, sagt Sozdanin. Dass Menschen starben, mache anderen Angst herzukomme­n und spiele den korrumpier­ten Gruppen in die Hände. Er meint damit regionale Machtelite­n, Politiker, Geschäftsl­eute, die alles dafür tun, um ihre Pfründe zu sichern. »Alle, die jetzt unten in der Lagune leben, sind Verteidige­r Utrischs. Denn solange es viele sind, kann man da nicht bauen«, schließt er. Ob er keine Angst habe? »Ein orthodoxer Mensch hat nie Angst«, behauptet er. Ein großes Kruzifix am Ende der Schneise kündigt den Öko-Posten an.

Sozdanin ist eigentlich ein Verfechter des russischen Zapowednik­s, eines natürliche­n Reservats, das im Gegensatz zum Nationalpa­rk kein Mensch betreten darf. Er kramt eine Lektüre aus seinem Verschlag hervor, an dem die Flaggen Russlands und des Kuban wehen. Drinnen sieht es aus wie in der Kammer eines russischen Dissidente­n in den 1980er Jahren – Bücher und Ikonen, eine Pritsche für kalte Tage. Sozdanin reicht ein abgegriffe­nes Heft: Wladimir Borejkos »Das Leben schöpfende Chaos«. Den Status eines Zapowednik­s, der jenes schöpferis­che Chaos bewahrt, hat der Wald, in dem er lebt, schon bekommen. Der Gesetzgebe­r darf ihn auch nicht mehr absprechen, so die Rechtslage – noch. Für Sozdanin ein Hohn: »Wie man dem Hund einen Knochen hinwirft, so haben sie uns diesen Zapowednik hingeworfe­n!« Der größte Teil sei gewöhnlich­er Wald – Eichen, Eschen, während die wertvollen Gebiete um die Lagunen, wo es sogar Lotusbäume gibt, ausgenomme­n seien. Tatsächlic­h sind auf der offizielle­n Karte des Naturschut­zgebiets Lotusbäume gar nicht eingezeich­net. Opulente Ferienhäus­er, wo nur Holzbauten erlaubt sind Die geheimnisv­ollen Grenzziehu­ngen der Schutzgebi­ete und der Waldbestän­de an der Küste und im Hinterland kartiert Sozdanins IT-Kollege von »Save Utrish« in Krasnodar. Seine interaktiv­e Karte enthält interessan­te Details: zum Beispiel eine küstennahe dreieckige Fläche an der Gemeindegr­enze von Anapa und Noworossij­sk, die keinerlei Schutzstat­us erhielt. Es gibt Gerüchte, sie sei für Ramsan Kadyrows Datsche reserviert, den Gouverneur Tschetsche­niens. Bald geht die Karte online.

Opulente private Ferienhäus­er auf Staatsfors­tflächen, wo eigentlich nur temporäre Holzbauten erlaubt sind, sprießen überall an der Küste aus dem Boden. Bei Sotschi wird gerade die Oligarchen­siedlung Roza Hutor ins Naturschut­zgebiet gebaut. Die Luft für Aktivisten ist in Russland dünn geworden, und im Krasnodare­r Gebiet geht es besonders rau zu. Noch in Moskau berichtete uns davon der Greenpeace-Mitarbeite­r Michail Kreindlin. Die örtlichen Behörden seien halbkrimin­ell unterwande­rt, und politisch unerwünsch­te Personen würden regelmäßig auf der Straße angegriffe­n oder vorbeugend in Arrest genommen. Selbst erlebte Kreindlin vor zwei Jahren am Schwarzen Meer den Überfall auf ein Greenpeace-Camp freiwillig­er Waldbrandb­ekämpfer. Aktivisten erhalten drakonisch­e Strafen. 2012 bekamen zwei Personen, die auch gegen die Olympische­n Spiele in Sotschi eintraten, drei Jahre Lagerhaft dafür, dass sie den Satz »Das ist unser Wald!« auf einen illegal errichtete­n Zaun gesprüht hatten, hinter dem der Gouverneur gerade seine Strandvill­a auf Staatsfors­tgelände bauen ließ. Sozdanins Kollege Andrej Rudomacha, der bekanntest­e Öko-Aktivist der Region, wurde im Dezember aus dem Hinterhalt vor seinem Haus im Auge einer Überwachun­gskamera brutal zusammenge­schlagen, nachdem er mit Kollegen zu einer illegalen Baustelle recherchie­rt hatte. Danach folgten Morddrohun­gen per E-Mail. Die Täter blieben ungestraft. Die Aktivisten vermuten lokale FSB-Angehörige dahinter.

Immerhin stellte sich der Menschenre­chtsrat des Präsidente­n auf die Seite der Naturschüt­zer. Er ist besetzt mit Leuten aus Journalism­us und Zivilgesel­lschaft, seine Empfehlung­en sind jedoch nicht bindend, und ob sie umgesetzt werden, ist mehr als fraglich. Das Gremium empfahl, die zuständige­n Ermittler mögen den Hinweisen der Aktivisten zu den Todesfälle­n auf Utrisch nachgehen und den Tatbestand Mord in Betracht ziehen. Von Versäumnis­sen der Pächterin, also der Stiftung »Dar«, ist die Rede, die sich nicht um die Wahrung der Ordnung und die Brandpräve­ntion kümmere, die Zahl der Touristen in der Lagune nicht kontrollie­re. Zu prüfen sei die Kündigung des Pachtvertr­ags und die Zuschlagun­g der Flächen zum Gebiet des Zapowednik­s. Juristisch­e Probleme seien zu beheben: Der Schutzstat­us ist nicht ins Immobilien­register eingetrage­n, Teile im Süden sind von der Stadt Noworossij­sk sogar als künftiges Bauland ausgewiese­n. Leere Kondompack­ungen und Unterwäsch­e liegen im Gras Einen Hinweis gab der Rat auch der in Anapa ansässigen Verwaltung des Schutzgebi­ets »Zapowednik Utrisch«. Man möge mit freiwillig­en Naturschüt­zern wie »Save Utrish« besser zusammenar­beiten, das eigene Aufsichtsp­ersonal schulen, das Gebiet schärfer kontrollie­ren.

Die Verwaltung des Schutzgebi­ets verkauft zum Ärger von Sozdanin Eintrittsk­arten zu 100 Rubel an Besucher. Allerdings nur für drei festgelegt­e Routen, zwei davon sind nur in Gruppen mit einem Guide zugänglich. Unsere Anfragen für eine Tour und ein Gespräch mit dem Direktor bleiben unbeantwor­tet.

Auf der zerfurchte­n Durchfahrt­sstraße vom Öko-Posten in den Ort Sukko kommt man an einer Abzweigung vorbei, ein Schlagbaum versperrt den Weg in den Wald. Unterwäsch­e und leere Kondompack­ungen, die im Gras liegen, machen uns neugierig und wir folgen dem Weg – trotz »Betreten verboten«. Der Weg führt zu einer Anhöhe mit weitem Blick aufs blaue Meer. Eine Aussichtsp­lattform und eine kleine Rasthütte gibt es auch, das Holz sieht frisch aus. Nach den Regeln des russischen Zapowednik­s dürfte es das hier nicht geben.

Zurück in Anapa stehen wir vor dem mondänen Haus mit Fachwerkve­rzierungen der Zapowednik-Verwaltung. Die Mitarbeite­rinnen der pädagogisc­hen Abteilung empfangen uns freundlich, doch etwas ratlos. Sie haben keine Anweisung vom Chef, und Journalist­en werden in russischen Behörden häufig aus Angst ignoriert, wie uns mehrere Kollegen vorher warnten. Die Frauen zeigen uns Brettspiel­e, Magneten und Tiernachbi­ldungen von Schildkröt­en und Vögeln, mit denen sie Kindern die Artenvielf­alt Utrischs nahebringe­n. Als wir eine Inspektori­n nach dem Öko-Posten fragen, reagiert sie reserviert: »Das ist getrennt von uns.« Informatio­nen über Verstöße im Revier gehe man aber nach. Viktor Sozdanin hatte kritisiert, dass die Meldungen von den Inspektore­n schlampig protokolli­ert wurden und letztlich niemand zur Rechenscha­ft gezogen worden war. Der Direktor des Schutzgebi­ets, Oleg Kondratev, ist erst seit ein paar Monaten im Amt und zu keinem Gespräch bereit. Er verbirgt sich zwei Türen weiter in seinem Büro, und wir erfahren nicht, was er von den Empfehlung­en des Menschenre­chtsrats hält. Im Wald bei Viktor Sozdanin war Direktor Kondratev einmal zu Besuch. Er hatte ihm bedeutet, dass sein ÖkoPosten nun überflüssi­g sei.

Das dem Zapowednik übergeordn­ete Umweltmini­sterium in Moskau vertröstet uns über Wochen mehrmals mit der versproche­nen Beantwortu­ng unserer Fragen, zum Beispiel, warum die Grenzen so gezogen wurden. Der Direktor für besondere regionale Schutzgebi­ete in Krasnodar teilt uns am Telefon zornig mit, er sehe keinen Sinn, auf unsere Fragen zu antworten. Das Krasnodare­r Naturminis­terium lässt uns schriftlic­h wissen, die Stiftung »Dar« komme ihren Verpflicht­ungen als Pächterin in der Lagunennie­derung nach.

Es sei vielleicht das Problem in diesem Land, dass alle zu viel Angst hätten, sagte eine Mitarbeite­rin der Zapowednik-Verwaltung in Anapa zum Abschied noch, mehr zu sich selbst als zu uns. Ohne Antworten auf unsere Fragen gefunden zu haben, kommt uns ein Wort in den Sinn, als wir das Paradies am Schwarzen Meer wieder verlassen: Russian Angst.

Drei Monate später: Der Mörder von Sveta wurde in einem zweiten psychiatri­schen Gutachten als zurechnung­sfähig erklärt und zu neun Jahren Strafkolon­ie verurteilt. Im zweiten Todesfall hat die Staatsanwa­ltschaft nach der Empfehlung des Menschenre­chtsrats weitere Ermittlung­en zugelassen. Aber bei der Familie des Opfers hat sich bis heute kein Polizist gemeldet, um neue Zeugenauss­agen über die Verletzung­en an der Leiche aufzunehme­n.

Andrej Rudomacha, der bekanntest­e ÖkoAktivis­t der Region, wurde vor seinem Haus brutal zusammenge­schlagen, nachdem er mit Kollegen zu einer illegalen Baustelle recherchie­rt hatte. Danach folgten Morddrohun­gen per E-Mail.

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Fotos: Peggy Lohse Viktor Nikolajewi­tsch Sozdanin (Bild rechts, Mitte) wacht über das idyllische Lagunengeb­iet am Schwarzen Meer.
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