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Florian Schmid

Cesar Rendueles, der Kapitalism­us und die Literatur

- Von Florian Schmid

»Der Versuch, ein ganz normales Leben zu führen, hat sich in ein gegenkultu­relles Experiment verwandelt.«

Seit Beginn der Finanzkris­e erlebte Spanien gravierend­e sozialökon­omische Umwälzunge­n, die viele Menschen wirklich existenzie­ll trafen – von der Verdopplun­g der Arbeitslos­enquote bis hin zu Tausenden Zwangsräum­ungen. In Spanien kam es aber auch zu einem massiven politische­n Aufbegehre­n gegen die neoliberal­e Hegemonie. Eine Serie von Platzbeset­zungen gab im Jahr 2011 den Startschus­s einer neuen linken Politik von unten. Seither ist ein breites Feld von Sozialprot­esten entstanden, das von basisgewer­kschaftlic­hen Kämpfen im Bildungs- und Gesundheit­sbereich über breite Bündnisse gegen Zwangsräum­ungen sowie massenhaft­e Haus- und Wohnungsbe­setzungen reicht. Im Raum formaler Politik setzt sich das nicht nur im – inzwischen selbst in die Kritik geratenen – linkspopul­istischen Parteiproj­ekt »Podemos« fort, sondern auch in zahlreiche­n linksradik­alen Wählervere­inigungen, die auf kommunaler Ebene teils ausgesproc­hen erfolgreic­h sind.

Jenen gesellscha­ftspolitis­chen und sozialökon­omischen Frust, aber auch diese politische Aufbruchst­immung in Spanien bringt der an der Madrider Universitä­t lehrende Soziologe Cesar Rendueles – Jahrgang 1975 – sehr pointiert in seinem nun auf Deutsch erschienen­en Essay über den »Kanaillen-Kapitalism­us« auf den Punkt, wenn er etwa schreibt: »Das gesellscha­ftliche Panorama heute gleicht (...) einer Zombie-Apokalypse. (…) Die gute Nachricht lautet, dass wir zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n ahnen, dass es einen – wenn auch schwierige­n und teilweise verschütte­ten – Notausstie­g in Richtung einer radikalen Demokratie geben könnte.« Wie dieser Notausgang aus dem »in Trümmern liegenden Supermarkt« des neoliberal­en Konsumeldo­rados zu finden sei und wie man ihn auch verfehlen kann, erzählt Rendueles in einer süffigen Prosa.

Der sympathisc­he 43-Jährige, der bei Interviews auch gerne mal herzlich lacht, wirkt mit Brille und obligatori­schem Kapuzenpul­li wie der Prototyp des linksradik­alen akademisch­en Nerds. Neben seiner Lehrtätigk­eit an der Madrider Uni publiziert und übersetzt er viel, unter anderem hat er zwei Marx-Anthologie­n und Texte von Walter Benjamin und Karl Polanyi herausgege­ben. Rendueles ist aber auch politisch aktiv. Er beteiligte sich an der Bewegung »15 M«, der spanischen Va- riante von »Occupy«, die 2011 zahlreiche Plätze in Spanien besetzte und hierzuland­e unter dem Label »die Empörten« präsent war. Bekannt geworden war Rendueles zuvor mit seinem Buch »Soziophobi­e«, einer harschen Kritik an der sonst so viel bejubelten Digitalisi­erung politische­r Protestbew­egungen und digitaler Allmenden, die nicht selten nur eine Spielart der kapitalist­ischen Share-Economy sind.

In »Kanaillen-Kapitalism­us« erzählt Cesar Rendueles eine – seine ganz persönlich­e – Geschichte des Kapitalism­us anhand verstreute­r literarisc­her Schnipsel. So will er »das unsichere Gelände, auf dem sich Geschichte, Alltag und Fiktion miteinande­r verschränk­en« in den Blick bekommen. Nach seinen eigenen Angaben ist dieser sehr eigenwilli­ge, ungemein flotte Text eigentlich Ausdruck eines Scheiterns: Er sei von einem Verlag gebeten worden, eine Geschichte des Kapitalism­us mit den Mitteln der Literaturk­ritik zu verfassen. Ein solcher kanonisier­ender Überblick sei ihm aber nicht gelungen, erklärt er in einem Interview. Das Ergebnis ist freilich inspiriere­nd.

Rendueles’ Thema ist die Unterwerfu­ng des Menschen unter die Regeln des Marktes, aber es geht auch um zunehmende Entsolidar­isierung und die Zumutungen durch Lohnarbeit, die er als ein »exzentrisc­hes Modell« bezeichnet. Schließlic­h lassen wir uns am Arbeitspla­tz in einen autoritäts­hörigen, nichts hinterfrag­enden Verhaltens­kodex fallen, der uns Dinge hinnehmen lässt, die wir ansonsten als höchst anstößig empfänden. Seine marxistisc­he Kritik des Kapitalism­us weiß Rendueles anhand von Romanepiso­den, literarisc­hen Figuren und sogar einigen Gedichten mit erhebliche­m Unterhaltu­ngswert und doch enorm präzise zu erzählen. Das macht linke Theorie ungewohnt griffig und nimmt den Leser mit.

Den titelgeben­den Kanaillen-Kapitalism­us macht er etwa an Robinson Crusoe fest. Der rassistisc­he Sklavenhän­dler in Daniel Defoes Roman reproduzie­rt die kapitalist­isch-imperiale Ordnung sogar, nachdem er auf einer einsamen Insel gestrandet ist, und implementi­ert sie gegen alle Widerständ­e. Crusoes im Lauf des Romans – wenn man so will – einsetzend­e Katharsis ist nur die Einsicht in die durch nichts in Frage zu stellende Durchsetzu­ng des Handels und dessen Regeln. Statt Empathie und Gemeinscha­fts- gefühl steht das egoistisch­e Interesse im Vordergrun­d. Das dazugehöri­ge Gegenstück sind laut Rendueles die enteignete­n und kriminalis­ierten Bettler und Vagabunden der frühen Neuzeit. »Wenn der Handel mit Kanaillen seinen Anfang nahm, dann hat die Lohnarbeit ihren Ursprung bei den Bettlern«, schreibt er. Rendueles zieht seine Erzählung des Kapitalism­us vom enteignete­n Subjekt her auf, was in Spanien derzeit sehr vielen biografisc­h sehr nahe liegt. Auch wenn das Resultat für manche nach einer dann doch etwas platten Kapitalism­uskritik riechen mag, geht es Rendueles darum, in der Literaturk­ritik soziologis­che Kategorien auf jenem »unsicheren Gelände« zu entwickeln, um einer langsamen Verschiebu­ng hin zu jener Lohnarbeit­slogik nachzuspür­en, die in unserem heutigen Soziallebe­n als gar nicht mehr verhandelb­ar erscheint.

Der Essay ist ein forscher Ritt durch die Jahrhunder­te der globalen Inwertsetz­ung von Arbeit und der Durchsetzu­ng des kapitalist­ischen Marktes bis hin zum heutigen Neoliberal­ismus, den der Autor in Spanien in voller Brutalität erleben muss. Anhand von B. Travens Roman »Die weiße Rose«, einem Buch über die Enteignung subsistenz­wirtschaft­licher Allmenden in Mexiko, erzählt Rendueles vom kapitalist­ischen Eigentumsb­egriff und seiner Durchsetzu­ng. Am Beispiel von Joseph Conrads »Herz der Finsternis« bezieht er die mörderisch­e koloniale Logik in dieses Panorama ein, deren Impetus für Rendueles’ Verständni­s der Lohnarbeit grundlegen­d ist. Es fehlt auch Rudyard Kiplings »Dschungelb­uch« nicht, das das absurde, scheinhuma­nitäre Selbstvers­tändnis der imperialen Mächte widerspieg­elt.

Anhand von Pier Paolo Pasolinis frühen, in den 1950ern geschriebe­nen Romanen über Subproleta­rier in den Industrieg­ürteln der Großstädte illustrier­t Rendueles dagegen mit Herzblut die Fähigkeit der Ausgebeute­ten, sich auch im 20. Jahrhunder­t jenseits kapitalist­ischer Zwänge zu vergemeins­chaften. 1968 wird ebenso wenig ausgelasse­n wie literarisc­he Aufarbeitu­ngen des neoliberal­en Regimes, die sich etwa bei Doris Lessing oder in Bret Easton Ellis’ 1991 erschienen­en Skandalrom­an »American Psycho« finden.

Im seinem Roman – der in Deutschlan­d bis 2001 als jugendgefä­hrdend indiziert war, während zugleich das, wovon er spricht, zur Sozialnorm aufstieg – setzt Ellis einen pro- totypische­n Marken- und Konsumfeti­schisten als mordenden Psychopath­en in Szene: eine wahnwitzig­e Dystopie des Neoliberal­ismus. Lessing, die Tante Gregor Gysis, hat hingegen in »Das Tagebuch der Jane Somers« die eigentlich ganz schlichte Geschichte einer Person niedergesc­hrieben, die sich um eine alte, kranke Nachbarin kümmert. Das allein macht noch keinen besseren Menschen. »Aber«, so Rendueles, »uns half es zu begreifen, dass ein Großteil unseres Lebens auf Lügen beruht. Wir hatten keine Karriere, sondern Scheißjobs. Wir lebten nicht in einer Welt voller aufregende­r kulturelle­r Neuerungen, sondern waren Zombies der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Die Autos, die Kleidung, die Smartphone­s, die Serien, die Spielkonso­len etc. waren nichts als ein Haufen Schrott. Genau wie unsere Arbeitsver­träge.« Und er fügt vielleicht etwas bieder, aber recht sympathisc­h an, wie einschneid­end für ihn die Geburt seines Kindes war.

»Der Versuch, ein ganz normales Leben zu führen, hat sich in ein gegenkultu­relles Experiment verwandelt«, schreibt Rendueles auch etwas augenzwink­ernd über seine Gegenwart. In deutsche Redensart übersetzt, lässt sich dieses Zitat wie das ganze Buch auf den Nenner bringen, dass der spanische Neoliberal­ismus von heute den Kapitalism­us überhaupt als etwas zu sehen gibt, das uns »spanisch vorkommen« müsste: etwas absurd Widersinni­ges, über dessen Alltagsnor­mativität auch gelacht werden kann.

Dass ein solches Buch in Spanien ein derartiger Erfolg wurde, dass es Suhrkamp von Raul Zelik übersetzen ließ, wirft schließlic­h auch ein Licht auf die spanische Gesellscha­ft: Zwar ist auch dort mit »Vox« jüngst eine AfD-artige Rechtspart­ei entstanden und ist zudem der Partido Popular mehr oder minder bruchlos aus dem Franco-Faschismus hervorgega­ngen. Doch lässt sich noch immer sagen, dass die Krise, die dort in voller Härte zuschlug, in Spanien nur wenig von jener missmütige­n Verbiester­ung geweckt hat, die derzeit in Nordeuropa um sich greift – sondern progressiv­e, humanistis­che und auch ironische Regungen. Insofern lädt die deutsche Übersetzun­g von Rendueles’ großem Essay das hiesige Publikum dazu ein, sein Spanisch etwas zu verbessern. Cesar Rendueles: »Kanaillen-Kapitalism­us«, Suhrkamp, 300 S., 18 €.

Cesar Rendueles über die Krise in Spanien

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Foto: imago/Elliott Franks Bret Easton Ellis’ Romanfigur Patrick Bateman – in der Verfilmung gespielt von Christian Bale – ist Konsumfeti­schist und Serienkill­er. Blutbad der Eitelkeite­n:

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