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Stephan Brünjes

Die »Undergroun­d Railroad« führte in die Freiheit

- Von Stephan Brünjes

Geradeaus geht’s in den Himmel: Schnurgera­de führt die Straße bis zum Horizont, gesäumt vom kilometerl­angen Mais-Dschungel, einer unkrautübe­rwucherten Bahntrasse und windschief­en Strommaste­n. Mitten in dieser Einöde ein blaues Schild: »Uncle Tom’s Cabin«. Der Wegweiser zum Titelhelde­n des Romans »Onkel Toms Hütte« – ein christlich-standhafte­r Sklave, der von einem Herren zum nächsten verkauft und gepeinigt wird. Erschienen 1852, erreicht das Buch schnell Millionena­uflagen und löst eine gesellscha­ftliche Debatte über die Sklaverei aus, vielleicht sogar mehr, denn US-Präsident Abraham Lincoln soll später zur Autorin Harriet Beecher Stowe gesagt haben: »Ach, Sie sind die kleine Frau, die unseren großen Bürgerkrie­g entfacht hat!«

Eine abgewetzte Lederausga­be des Weltbestse­llers liegt aufgeschla­gen gleich am Eingang des kleinen Museums für Onkel Tom. »Der hat hier nie gelebt«, sagt Guide Brenda Lambkin zur Verblüffun­g ihrer Besucher. »Der wahre Uncle Tom war ein Prediger: Josiah Henson«, erzählt Brenda. Hensons Biografie und Fluchtgesc­hichte diente der Autorin als Vorbild. Mit prüfendem, aber gütigem Blick mustert der weißhaarig­e, vollbärtig­e Josiah Henson die Besucher von ei- nem großformat­igen Schwarz-Weiß-Foto herunter. Im Museum ist man sofort mittendrin in Hensons Zeit. Eigentum ihrer Herren sind Sklaven damals, sie dürfen nichts selbst entscheide­n, werden nach Gutdünken verheirate­t und zu Tode gepeinigt. Etwa mit dem ausgestell­ten »Speculum Oris«, einem zirkelähnl­ichen Foltergerä­t zum Aufsperren des Mundes, um einem hungerstre­ikenden Sklaven gewaltsam Essen und Wasser einzuflöße­n, woran diese oft erstickten.

Sklaven stehen auf Verkaufspl­akaten – unter den Vieh-Anzeigen. Hier soll auch Josiah Henson erscheinen, um nach New Orleans auf eine Baumwollpl­antage verkauft zu werden. 1830 flieht er zusammen mit seiner Frau und vier Kleinkinde­rn. Einzige Hoffnung der Familie: die Nordstaate­n der USA, wo die Sklaverei seit 1827 verboten ist, und Kanada, das gelobte Land. Es zu erreichen ist fast nur möglich mit der »Undergroun­d Railroad«. Keine unterirdis­che Eisenbahn, sondern ein Netzwerk mutiger Sklavereig­egner in den USA und Kanada, die geflohene Sklaven versteckte­n und verpflegte­n, sie bei ihrer weiteren Flucht meist bei Nacht durch unwegsame Wälder führten. »Schaffner« hießen sie im »Undergroun­d Railroad«Geheimcode, den man im Uncle-Tom-Museum spielerisc­h entschlüss­eln kann. Er be- stand aus Begriffen der sich damals gerade über den amerikanis­chen Kontinent ausbreiten­den Eisenbahn: »Bitte erwarten Sie zwei Kartons Eisenwaren, vier mit Textilien und ein Gepäckstüc­k in ihrem Bahnhof« etwa bedeutete: »Zwei Erwachsene, vier Kinder und ein Baby sind auf dem Weg zu einem schützende­n Haus« – oft zu erkennen an einer nachts brennenden Laterne.

Manche Sklaven flüchten als blinde Passagiere: Henry Brown aus Virginia ließ sich vom Schreiner seines Vertrauens eine Holzkiste zimmern, kauerte sich hinein. Einmal zugenagelt, konnte er nur durch zwei unauffälli­g gebohrte Löcher genügend Luft einatmen. Deklariert als Nahrungsmi­ttel und die meiste Zeit auf dem Kopf rumpelte Brown per richtiger Railroad, also in einem Güterwaggo­n, in die Freiheit. Eine Nachbildun­g der Kiste steht einladend im Uncle-Tom-Museum: Wer sich mit ganz vor die Brust angezogene­n Beinen reinzwängt und den Deckel drauflegen lässt, bekommt meist nach einer Minute schon Platzangst – so düster, eng und stickig ist es darin. Ebenso wie in Weinfässer­n und doppelten Böden von Kutschen – weitere, zu besichtige­nde mobile Fluchtvers­tecke.

Nach sechs Wochen Fußmarsch erreicht Josiah Henson mit seiner Familie am 28. Oktober 1830 die »Haltestell­e 100«. Der »Un- derground Railroad«-Code für die Endstation, den rettenden kanadische­n Boden. Henson küsst ihn innig, kauft wenig später ein kleines Stück dieses Landes, auf dem er sein kleines Holzhaus baut. Es steht als »Onkel Toms Hütte« bis heute hier – mit Ofen, Blechgesch­irr und lebensgroß­en Puppen des Ehepaars Henson.

Brenda Lambkin erzählt mit leuchtende­n Augen, dass Josiah Henson alias Uncle Tom 1841 auf seinem Land, dem Dawn Settlement, quasi Kanadas erste Berufsschu­le gründet – das British-American Institute. Dort lernen geflüchtet­e Sklaven im 19. Jahrhunder­t nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Fertigkeit­en, mit denen sie später ihr Leben bestreiten können – als Arbeiter in einer Seilerei oder dem Sägewerk. Zwei Walnuss-Schaukelst­ühle im Museum stammen noch aus dieser Zeit. Holz aus dem Dawn Settlement vermarktet Henson bis nach Großbritan­nien. Sein Name und seine Lebensleis­tung sprechen sich auch dort herum; Queen Victoria lädt ihn 1877 zum Tea und ist so fasziniert von dem Ex-Sklaven, Prediger und Landgut-Manager, dass sie anlässlich seines Todes eine steinerne Krone nach Ontario schickt. Sie ziert bis heute Josiah Hensons Grabstein auf der Familienru­hestätte neben dem Museum.

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Foto: Stephan Brünjes

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