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Auf das Licht folgten die Schatten

Moische Kulbaks Familiensa­ga »Die Selmeniane­r« über eine jüdische Familie nach der Oktoberrev­olution

- Von Thomas Möbius

Kommunismu­s – das ist Sowjetmach­t plus Elektrifiz­ierung« – mit Lenins Losung beginnt auch in Moische Kulbaks Roman »Die Selmeniane­r« die neue Zeit. Eine jüdische Familiensi­ppe im Minsk der 1920er Jahre: die Selmeniane­r und ihr Rebsehof, kleine Handwerker und Arbeiter allesamt. Revolution und Bürgerkrie­g sind vorbei, der Aufbau der neuen Ordnung ist im vollen Gange. Bere, einer der Jungen, beschließt: Der Hof wird elektrifiz­iert. Die Alten murren: »Wir brauchen deine Elektrizit­ät nicht«, die »ist nur was für feine Leute«. Vergebens. »Ein paar Tage später kam in den Abendstund­en die Elektrizit­ät an … Tausend kleine Schatten, die seit Generation­en an den Wänden gehangen hatten, wurden plötzlich wie mit einem Besen hinausgeke­hrt.« Das Licht wird zur Aufklärung. Doch als die Großmutter stirbt, bittet sie, das elektrisch­e Licht zu löschen: »Bei einem solchen Feuer könne sie nicht sterben.«

Mit Witz und Komik schildert Kulbak, wie das neue Leben in die traditione­lle Schtetl-Welt bricht. Er zeigt es als Generation­enkonflikt. Die Jugend stellt sich auf die Seite des Neuen, des Sozialismu­s: Sie studiert, liest Marx, will von den alten religiösen Ritualen nichts mehr wissen. Bere nennt seinen Sohn Marat nach dem französisc­hen Revolution­är. Sein Bruder Falke führt auf dem Hof das Radio ein. Die Alten schauen dem Treiben der Jugend, dieser »Nichtsnutz­e«, misstrauis­ch zu. Bei jeder Neuerung seufzen sie: »neues Unheil«. Doch während die einen an den Traditione­n festhalten, öffnen sich andere dem Neuen. Beres Vater, Onkel Itsche, erklärt, er sei durchaus für die Sowjetmach­t, und schneidet sich Stück für sein Stück den traditione­llen Bart ab – ohne sehe er auch jünger aus. »Aber alles auf einmal, das geht nicht!« Es ist dabei nicht allein die »Sowjetisie- rung«, die die alte Lebensweis­e auflöst. Es ist die Moderne. Kulbak zeigt seine Selmeniane­r im Aufbruch zwischen Tradition und Fortschrit­t. Die Revolution vollendet die jüdische Emanzipati­on. Die Bewahrung der Traditione­n hat daneben keinen Platz mehr. Alle Figuren im Roman, die an ihnen festhalten, sterben. Mit stiller Trauer lässt Kulbak auf den Untergang des Alten blicken.

Moische Kulbak, 1896 in der Nähe von Wilna geboren, war nach der Revolution 1917 zunächst als Lyriker aufgetrete­n und rasch zum Star der jungen jiddischen Literatur geworden, besonders unter der Jugend. Im Roman zitiert die junge Tonke eines seiner populärste­n Gedichte, »Die Stadt«, das die Oktoberrev­olution begrüßt: »Es gibt ein Gedicht des selmeniani­schen Dichters Kulbak, das mir nicht aus dem Kopf gehen will.« 1928 zog Kulbak aus dem damals polnischen Wilna ins sowjetisch­e Minsk. Die junge Sowjetunio­n förderte die jiddische Kultur. Jiddisch war eine der vier Staatsspra­chen Weißrussla­nds, es gab jiddische Schulen, Theater, Verlage, Zeitschrif­ten. Die jiddische Literatur schien hier zu neuer Blüte zu kommen. Und Minsk empfing den Dichter mit offenen Armen.

»Die Selmeniane­r« erschien als monatliche­r Fortsetzun­gsroman ab 1929 in der jiddischen Literaturz­eitschrift Stern. Der Roman wird heute zumeist als »traurige Satire über die Sowjetisie­rung« und Revolution­skritik gesehen, als allegorisc­he Chronik eines Untergangs. Doch das hat wohl mehr mit unserer heutigen Sicht auf die vernichtet­e ostjüdisch­e Welt und mit dem Wissen um Kulbaks Schicksal zu tun. Bei aller Melancholi­e über die Auflösung der Traditione­n erzählt der erste Teil in für die Zeit typischer Weise vom Aufbau des Sozialismu­s und vom Konflikt zwischen Altem und Neuem. Kulbak beschreibt schnurrig die neuen Errungensc­haften: die Modernisie­rung des Lebens mit Elektrizit­ät, Radio, Kino, die neuen Häusern und Fabriken. Er zeigt dabei beide Seiten, die Jungen und die Alten, mit Ironie und Sympathie.

Im zweiten, 1933/34 erschienen­en Teil jedoch verfliegt diese Heiterkeit. Das Ende des traditione­llen Lebens wirkt zunehmend verzweifel­t, das Neue düster. Verfall und Tod dominieren. Der Jugend, im ersten Teil voller Elan, gelingt es nicht, Zukunft zu schaffen. Man ahnt die Folgen des Kurswechse­ls in der Nationalit­ätenpoliti­k Anfang der 1930er Jahre. Die Förderung der jiddischen Kultur war vorbei; sie wurde nunmehr verurteilt als »jüdischer Partikular­ismus«. Auch Kulbak wurde kritisiert, dass seinen »Selmeniane­rn« das richtige Bewusstsei­n fehle: Das Jüdische sei für sie stärker als der Sozialismu­s. Kulbak sucht, sie anzupassen. Doch seine Figuren werden keine sozialisti­schen Helden. Im Gegenteil: Die radikalen Parteigäng­er der Sowjetmach­t wie Tonke erscheinen zweifelhaf­t und ihr Leben leer. Man sympathisi­ert als Leser mit denen, die die untergehen­de jüdische Kultur vertreten. Ihr Schicksal traf wenig später auch Kulbak. Die Kritik an den »Selmeniane­rn« war der Auftakt zu seinem tragischen Ende. 1937 wurde er verhaftet und erschossen.

In der DDR erschien 1973 der erste Teil des Romans auf Deutsch; bei Volk und Welt, übersetzt von Max Reich. Mit der jetzigen Ausgabe liegen nun erstmals beide Teile vor. Im Vergleich zur Reich-Übersetzun­g hebt die neue von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme sprachlich das Jüdische hervor. Doch scheint mir Reichs bildhafter und auch genauer den Ton der Zeit zu erfassen; so heißt es z. B. bei Reich »elektrifiz­ieren«, in der neuen »mit Strom versorgen«. Beigefügt ist ein Nachwort von Susanne Klingenste­in zu Leben und Werk von Kulbak. Dieses ist in den Fakten sehr informativ; die Deutungen sind jedoch zu hinterfrag­en.

Neben den »Selmeniane­rn« erschienen in der letzten Zeit weitere Werke von Moische Kulbak auf Deutsch: der Revolution­sroman »Montag« und der Roman »Der Messias vom Stamme Efraim«, die Geschichte eines plebejisch­en Erlösers (eine Neuauflage der Volk-und-WeltAusgab­e von 1996) sowie der Gedichtzyk­lus über Berlin »Childe Harold aus Disna«. Gelegenhei­t, eine der großen Stimmen der jiddischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunder­ts wiederzuen­tdecken.

Was von der jiddischen Kultur blieb

Moische Kulbak: Die Selmeniane­r. Roman. Aus dem Jiddischen von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme. Die Andere Bibliothek, 397 S., geb., 42 €.

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