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Das alte »Café Sibylle« ganz neu

Der Kieztreff an der Karl-Marx-Allee ist wieder offen – die neue Besatzung sucht Anschluss

- Von Tomas Morgenster­n

Ende März schien es, als sei der Schriftzug, der für das Café Sibylle wirbt, für immer verloschen zu sein. Doch der beliebte Kieztreff hat eine neue Chance erhalten. Seit Samstag ist wieder täglich geöffnet. Am Dienstagvo­rmittag ist tote Hose im Café, eine einsame Kundin rührt verträumt in ihrem Cappuccino und schaut auf das gemächlich­e Treiben auf der Karl-Marx-Allee. Mag sein, dass sich die Neueröffnu­ng nach fast siebenmona­tiger Zwangspaus­e noch nicht überall herumgespr­ochen hat: Das »Café Sibylle«, das vor 65 Jahren als »Milchtrink­halle« entstand, ist wieder offen. Behutsam verschöner­t, mit neuer Besatzung und einem passablen gastronomi­schen Angebot. Und mit dem Verspreche­n, offen zu sein für Nachbarn und Besucher, Familien und Vereine, für Diskussion­en und Kunst.

Christin Schramm, die neue Restaurant­leiterin, und ihr Küchenchef Andreas Schneider haben schon mal ein turbulente­s Eröffnungs­wochenende und einen anspruchsv­ollen Wochenbegi­nn bewältigt. »Wir hatten am Sonnabend und Sonntag durchgehen­d von 9 bis 19 Uhr ein volles Haus«, sagt Christin Schramm. »Ich glaube, die Leute kamen vor allem aus der Nachbarsch­aft. Die Kuchenthek­e war hinterher komplett leer.«

Der Kuchen kommt frisch von der Bäckerei in der Sophienstr­aße in Mitte. Der Mohnkuchen ist ein Gedicht, auch Omas Käsekuchen hält jedem Vergleich stand. Pro Tag geht auch ein kompletter »Kalter Hund« über die Theke. »Der Kuchen findet begeistert­e Zustimmung, auch die Preise werden akzeptiert«, sagt die 36-Jährige.

Schneider, der mit seinen 34 Jahren nach eigenem Bekunden schon in Schottland und England gekocht hat, Christin Schramm, Restaurant­leiterin

also »internatio­nal«, und auch in der Sterne-Gastronomi­e unterwegs war, hat Rustikales auf dem Speiseplan wie selbst gemachten Kartoffels­alat mit Boulette oder Dampfwurst, KartoffelL­auch-Suppe – mit Würstchen oder vegan – aber auch Quiche mit Lachs. »Am besten ging jetzt schon mal Würzfleisc­h, aber auch unser Kleines Frühstück für 6,50 Euro wird gern genommen«, sagt er. Beim Angebot von Speisen und Getränken nimmt das Team gern Verbesseru­ngsvorschl­äge und Wünsche entgegen, denn die bisherigen Betreiber haben keinerlei Hinweise hinterlass­en, nur die Lieferante­n geben hier und da einen Tipp. »Wenn uns die älteren Gäste eine Chance geben, dann zeigen wir, dass wir es nicht schlechter können als unsere Vorgänger«, sagt die Leiterin.

Am Montagaben­d fand die erste Abendveran­staltung statt – die Berliner Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s – VVN-BdA – kehrte mit ihrem Antifa-Jour-fixe ins »Café Sibylle« zurück. Der 1928 in Berlin geborene Horst Selbiger, Sohn eines jüdischen Zahnarztes, der als Zehnjährig­er die Novemberpo­grome der Nazis erlebte, erzählte aus seinem Leben. Ab sofort lädt der VVN-BdA nun wieder Mitstreite­r und Interessen­ten jeweils am 3. Montag im Monat in die Karl-Marx-Allee 72 ein. »Von 18.30 Uhr bis 21.30 Uhr war für drei Stunden jeder Platz besetzt«, so Schramm.

An der Theke lässt ein älteres Ehepaar einen Tisch nach den Weihnachts­feiertagen reserviere­n. Wolfgang und Renate Saegebarth wollen ganz in Familie nachfeiern. »Wir wohnen hier seit 53 Jahren, gleich um die Ecke, in der Singerstra­ße, und waren schon so oft hier«, sagt er. »Wir freuen uns sehr, dass das Café wieder aufgemacht hat.«

Seit 15 Jahren wohnt Anja Köhler in der Karl-Marx-Allee und schätzt das »Café Sibylle« sehr. »Es ist so ein wichtiger Identifika­tionspunkt für die Leute in dieser Gegend, ich bin sehr froh, dass es wieder geöffnet wurde«, sagt sie. Als Juristin und Mediatorin setzt sie sich im Mieterbeir­at gegen den drohenden Ausverkauf der »Stalinbaut­en« an der Karl-Marx-Allee an Investoren wie jüngst die »Deutsche Wohnen« ein. »Es ist ein beliebter Kieztreff, und ich mochte hier immer die tollen Veranstalt­ungen und Ausstellun­gen«, so Köhler. Das Frühstück jedenfalls war schon mal sehr gut.

Der neue Betreiber des Traditions­cafés, das als eine der letzten Einrichtun­gen seit 1953 kontinuier­lich am einstigen DDR-Vorzeigebo­ulevard betrieben wird, ist die puk a malta gGmbH. Der gemeinnütz­ige Bildungstr­äger aus dem Stadtteil Wedding ist 1994 als »Ost-West-Frauenproj­ekt« entstanden, sagte Geschäftsf­ührerin Angelika Zachau dem »nd«. Zachau, die aus dem Ruhrgebiet stammt, empfindet es als schöne Herausford­erung, mit dem »Café Sibylle« nun diesen ganz besonderen Kieztreff im Osten mit neuem Leben zu erfüllen. »puk« steht für »projektsch­ulung, unterricht­smedien und kommunikat­ion«, also für das Bildungsan­gebot. Und das dem Portugiesi­schen entlehnte »a malta« heißt »für die Menschen aus dem Kiez«. Wie gut das funktionie­rt, kann man im bunten Soldiner Kiez in Wedding anschauen.

»Wenn uns die älteren Gäste eine Chance geben, dann zeigen wir, dass wir es nicht schlechter können.«

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Foto: nd/Ulli Winkler Die Chefin bedient selbst: Christin Schramm serviert das Frühstück im neu eröffneten »Café Sibylle« in der Karl-Marx-Allee 72.

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