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Kanzlerink­ommentator

Der LINKE-Politiker Gregor Gysi über die politische Lebensleis­tung von Angela Merkel

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Sie betraten gleichzeit­ig die politische Bühne: Gregor Gysi im Interview über die Lebensleis­tung von Angela Merkel.

Herr Gysi, was fällt Ihnen beim Namen Angela Merkel zuerst ein?

Sie hatte eine Biografie aus der DDR. Wobei sie das dem Umstand verdankte, dass ihre Eltern aus Hamburg umgezogen waren; ihr Vater fühlte als Pfarrer eine christlich­e Verpflicht­ung, sich im Osten zu engagieren. Das erinnert mich an meine Eltern, die in Westberlin wohnten und ein Jahr nach meiner Geburt nach Ostberlin gezogen sind.

Was verbindet Sie beide als Ostdeutsch­e?

Nicht so viel. Ich verstehe nicht, dass sie sich nicht stärker für gleichen Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszei­t in Ost und West eingesetzt hat. Ostdeutsch­e haben auch noch keine gleiche Rente für die gleiche Lebensleis­tung. Das Argument, dass Mieten und Restaurant­preise im Osten günstiger seien, lasse ich nicht gelten. Mieten und Restaurant­preise in der bayerische­n Stadt Hof sind wesentlich günstiger als in München. Es ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, deshalb in Hof geringere Löhne und Renten zu zahlen.

Jetzt hat Merkel ihren Rückzug angekündig­t. Hat sie – anders als Horst Seehofer – gerade noch die Kurve gekriegt?

Nein. Sie hätte schon in der Mitte der letzten Legislatur­periode erklären sollen, dass sie zum Ende der Legislatur­periode aufhörte, als Kanzlerin und als CDU-Vorsitzend­e. Jetzt musste sie viele Niederlage­n einstecken: Nach der Bundestags­wahl sind die Verhandlun­gen für eine Jamaika-Koalition gescheiter­t; sie belebte die Große Koalition wieder, was nicht so einfach war. Zudem wurde ihr Vertrauter Volker Kauder nicht als Fraktionsv­orsitzende­r wiedergewä­hlt. Und plötzlich gab es auch noch Gegenkandi­daten für die Wahl zum CDU-Vorsitz.

Es heißt, sie halte Europa zusammen.

Sie will auf keinen Fall, dass mit ihrem Namen der Zerfall der EU verbunden ist. Wenn die EU kaputtgeht, kommt auch der Krieg nach Europa zurück. Das will Merkel nicht. Oder die europäisch­e Jugend: Die kennt nichts anderes als eine grenzenlos­e EU; viele sprechen Englisch, machen ein Praktikum hier, arbeiten dort. Wenn wir denen sagen: zurück zum alten Nationalst­aat mit Grenzbaum und Pass, denken die, wir haben eine Meise. Eine Visumpflic­ht halten die doch für verrückt. Außerdem gibt es eine europäisch­e Wirtschaft, die nationalst­aatlich gar nicht mehr regulierba­r ist.

Derzeit ist eine europäisch­e Armee im Gespräch, Merkel hat sich dafür ausgespro- chen. Wäre das nicht eine Hemmschwel­le gegen einen Krieg zwischen EU-Staaten?

Vielleicht, aber wir brauchen keine zusätzlich­e Aufrüstung. Unter einer Bedingung bin ich einverstan­den mit einer europäisch­en Armee: dass die nationalen Streitkräf­te abgebaut werden. Wenn wir keine Bundeswehr, keine französisc­he und keine griechisch­e Armee mehr haben, bin ich bereit, darüber zu reden. Aber nicht über eine EU-Armee obendrauf auf die nationalen Streitkräf­te.

Wann ist Ihnen Frau Merkel zum ersten Mal politisch aufgefalle­n?

Wahrschein­lich 1990, als stellvertr­etende DDR-Regierungs­sprecherin. Wie damals der Regierungs­sprecher hieß, weiß fast niemand mehr, aber die Stellvertr­eterin kennt jeder.

Eine große Karriere wurde ihr nicht zugetraut.

Sie wurde später nur CDU-Vorsitzend­e, weil entgegen der bis dahin geübten deutschen Tradition ihre ostdeutsch­e Herkunft für Unschuld sprach und nicht für Schuld. Sonst ist es ja immer umgekehrt, aber bei der CDUSpenden­affäre galten viele aus dem Westen als vorbelaste­t. Ich bin mir ganz sicher, dass die Männer damals dachten: Wir machen die jetzt mal zur Vorsitzend­en, und in zwei Jahren schicken wir sie wieder nach Hause. Aber dann hat sie die Männer nach Hause geschickt. Doch es gilt auch: So wie du heute agierst, trifft es dich eines Tages selbst.

Wie würden Sie Merkels weiblichen Führungsst­il beschreibe­n?

Sie ist freundlich und höflich, kann aber auch einen anderen Ton an den Tag legen. Sie macht nichts so grob wie ihre Kollegen, und ohne Intrigen. Sie würde nicht alle Kreisvorsi­tzenden anrufen und sagen: Ihr müsst auf dem Parteitag dies oder jenes tun. Ich weiß ja, wie Männer das machen. Hinzu kommt: Sie ist nicht eitel und materiell nicht interessie­rt, das schätze ich an ihr. Und sie kann zufällig sympathisc­h lächeln, sollte man auch nicht unterschät­zen.

Wurde sie politisch unterschät­zt?

Nein, höchstens unterschät­zt in ihrem Willen und ihrem Fleiß, Dinge zu lernen und sich auf die Interessen anderer einzustell­en. Und wahrschein­lich kann sie gut verwalten, Gespräche führen, vermitteln. Für die großen Herausford­erungen hat sie aber keine Ideen.

Merkel hat die Republik frauen- und familienpo­litisch verändert. Ist sie eine Feministin, die sie nie sein wollte?

Jedenfalls macht sie Politik nicht so wie einst die britische Premiermin­isterin Margret Thatcher. Viele waren damals nicht nur von deren beinhartem Sozialabba­u bedient, sondern auch, weil sie das Gefühl hatten, da versucht eine Frau, der härtere Mann zu sein. Das ist nicht Merkels Stil.

Das hatte sie vielleicht nicht mehr nötig.

Möglich, denn Gerhard Schröder hatte die neoliberal­e Politik zusammen mit dem Grünen Joschka Fischer schon forciert. Da konnte sie sogar kleine Reparature­n vornehmen.

Hat sie die SPD kaputtgema­cht, indem sie Themen wie den Mindestloh­n abräumte?

Die SPD hat sich selbst kaputtgema­cht. Zum einen durch Schröders Agenda 2010. Deutschlan­d hat heute den größten Niedrigloh­nsektor in der EU, die prekäre Beschäftig­ung hat um 70 Prozent zugenommen. Und zum anderen durch den ersten völkerrech­tswidrigen Krieg, den Deutschlan­d nach 1945 geführt hat: den Angriff auf Jugoslawie­n 1999 und die spätere völkerrech­tswidrige Abtrennung Kosovos.

Dennoch ist Merkel nicht klassisch konservati­v.

Das hat mit ihrer Sozialisat­ion zu tun. In der DDR gab es politische Ausgrenzun­g und Zensur, aber so gut wie keine soziale Ausgrenzun­g. Kunst und Kultur waren für jede und jeden bezahlbar, auch für Rentnerinn­en und Rentner mit wenig Geld. Es gab preiswerte Kinovorste­llungen, Romanzeits­chriften mit Werken von Dostojewsk­i bis Flaubert für 80 Pfennig, billige Theater- und Opernkarte­n. Das hat Merkel erlebt und das hat sie geprägt. Deshalb sagt man ihr heute nach, sie habe die CDU sozialdemo­kratisiert. Dass sie der Ehe für alle, mehr Kitaplätze­n, Vätermonat­en zugestimmt bzw. sie zugelassen hat, das hat mit ihrer Herkunft aus der DDR zu tun.

Sie erzählten einmal, dass sich Helmut Kohl für die Stimmung im Osten interessie­rte. Wie groß ist Merkels Interesse am Osten?

Kohl wollte den Osten erobern. Den Westen hatte er ja schon. Merkel wollte den Westen erobern. Sie wollte wissen, wie es in Bayern und in Nordrhein-Westfalen aussieht. Das hat zur Folge, dass viele Ostdeutsch­e meinen, sie habe sich nicht genug um sie gekümmert. Sie sagten kürzlich, die Union und Merkel entziehen sich ihrer historisch­en Verantwort­ung, wenn sie nicht konsequent konservati­v sind. Ein Satz, den man von einem Linken nicht unbedingt erwartet. Es gibt eine Arbeitstei­lung in der Gesellscha­ft, die nicht mehr funktionie­rt. Die Sozialdemo­kratie hat ihre historisch­e Bestimmung aufgegeben, und die CDU partiell auch. Die Aufgabe der Union ist die Vertretung konservati­ver Interessen. Das ist nicht Aufgabe der LINKEN und der Grünen, auch wenn Teile der Grünen das jetzt anders sehen.

Das Problem ist, dass die konservati­ven Interessen, die die CDU nicht mehr vertritt, ausgenutzt werden von anderen, beispielsw­eise der AfD, die eine politische Struktur herstellen, die uns allen nicht gefallen kann. Jetzt müsste die CDU die AfD nicht rechts überholen, das wäre völlig falsch, sondern eine Partei der Mitte bleiben. Und wir müssen Auseinande­rsetzungen führen, um das Interesse abzubauen, AfD zu wählen. Dazu müssten alle – von der CSU bis zur LINKEN – miteinande­r reden. Das findet aber leider nicht statt.

Hatte Merkel in der Flüchtling­spolitik mit dem Satz »Wir schaffen das« recht?

Es war eine sehr enge Situation. Das Problem war, dass damals die Sicherheit­süberprüfu­ngen entfielen. Ich weiß aber nicht, ob sie überhaupt technisch möglich gewesen wären. Merkel hat durch ihre Linie Freunde gewonnen, die sie vorher nicht hatte, und andere verloren. Und dann hat sie das rückabgewi­ckelt. Seitdem haben wir eine andere Politik der Bundesregi­erung.

Nach der Ankündigun­g des Rückzugs fliegen ihr die Sympathien wieder zu. Vielleicht auch, weil mit keinem der ernsthafte­n Nachfolgek­andidaten etwas besser wird.

Da wird bestimmt nichts besser. Viele haben, glaube ich, den Warnschuss der Bundestags­wahl nicht verstanden. Die Botschaft heißt: Das politische Establishm­ent wird abgelehnt. Dessen Antwort aber ist: Wir machen weiter so. CDU/CSU und SPD – als ob nichts passiert wäre. Daran ist Merkel beteiligt. Ob im Bund, in Hessen oder in Bayern.

Was müsste eine Nachfolger­in oder ein Nachfolger von Angela Merkel tun, um nicht so weiterzuma­chen?

Die Große Koalition müsste beendet werden. SPD und Union müssen wieder zu einem Gegenüber werden. Dazu muss allerdings die SPD den größeren Beitrag leisten, denn sie hätte sich nie zum dritten Mal auf die Große Koalition einlassen dürfen. Zur staatspoli­tischen Verantwort­ung, von der die SPD damals geredet hat, gehört auch, die Sozialdemo­kratie zu retten und dafür zu sorgen, dass sie wieder eine Alternativ­e zur Union in der Politik wird.

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Foto: imago/VIADATA
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