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Arbeiten statt abzuheben

Bei ihrem Landespart­eitag votieren die Grünen für mehr Gemeinscha­ftsschulen

- Von Nicolas Šustr

Trotz allgemein guter Laune dank eines Umfragehoc­hs zeigt sich beim Parteitag der Hauptstadt­grünen, dass progressiv­e Schulpolit­ik bei ihnen mehrheitsf­ähig, aber nicht unumstritt­en ist. »Lasst uns arbeiten und nicht abheben.« Diese mahnenden Worte richtet der Grünen-Bundesvors­itzende Robert Habeck gleich zu Beginn des Berliner Landespart­eitages am Samstag an die Delegierte­n. Denn laut aktueller Umfrage von infratest dimap im Auftrag von rbb und »Berliner Morgenpost« läge die Ökopartei mit 24 Prozent auf Platz eins, gefolgt von LINKE und CDU mit jeweils 18 Prozent und SPD mit 15 Prozent. Da träumen einige schon von einer Regierende­n Bürgermeis­terin Ramona Pop, vergessen scheint das Debakel von 2011, als die damalige Spitzenkan­didatin Renate Künast den zwischenze­itlichen demoskopis­chen Höhenflug bis zur Wahl nicht halten konnte.

»Wohnpoliti­k ist die soziale Frage dieser Zeit in dieser Stadt«, sagt Habeck und beklagt die große soziale Spaltung der Gesellscha­ft, die es zu überwinden gelte. Er meint damit auch Hartz IV, ohne den Begriff ein einziges Mal in den Mund zu nehmen. »Wer sagt, dass von seiner Hände Arbeit leben zu können müssen eine linkssozia­listische Forderung ist, was ist denn dann bürgerlich?«, will er wissen. Nicht zum ersten Mal formuliert er das dieser Tage so – der rhetorisch­e Kunstgriff soll die Partei wohl imprägnier­en gegen Angriffe von links. Schließlic­h brillieren die Grünen nicht durchgehen­d mit sozialpoli­tischer Kompetenz.

Und dann ist da noch die Ökologie. »Wenn wir den Klimawande­l bekämpfen verteidige­n wir Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie«, erklärt Habeck. Applaus und Jubel sind dem neuen Star der Partei dieser Tage auch von deren linkem Flügel sicher.

Mit dem Leitantrag »Schule fürs Leben« wird die zuständige SPD-Senatorin Sandra Scheeres frontal angegriffe­n. Auseinande­rfallende Schulgebäu­de, massenhaft ausfallend­er Unterricht und der Umstand, dass zehn Prozent der Jugendlich­en die Schule ohne Abschluss verlassen, nimmt Grünen-Landeskovo­ristzende Nina Stahr als Beleg dafür, dass die Senatsverw­altung »viel zu lange geschlafen« habe. Mit einem Strauß an kurz-, mittel und langfristi­gen Maßnahmen will die Partei »bessere Schulen, mehr Qualität und gerechtere Bildungsch­ancen für die Kinder dieser Stadt« erreichen.

Nächtelang hat die Antragskom­mission über dem Papier gesessen, um einen tragfähige­n Kompromiss zu erreichen, trotzdem liefern sich die Redner auf dem Parteitag ein erbitterte­s Duell. Dabei ist es kein klassische­r Flügelkamp­f zwischen Fundis und Realos wie so oft, sondern innerhalb der Realos haben sich zwei Lager aufgetan. Einerseits geht es um die Frage, ob Gesamtschu­len perspektiv­isch Gymnasien ganz ablösen sollen. Der andere Zankapfel ist die Haltung zu Privatschu­len.

»Wenn wir mit gewaltsame­n Strukturän­derungen überzeugen wollen, haben wir einen Schulkrieg«, sagt Stefanie Remlinger von der Abgeordnet­enhausfrak­tion. Man müsse »hingucken, warum Eltern sagen, dass ihre Kinder krank werden, weil sie unterforde­rt sind und sich langweilen«, so Remlinger. »Lasst uns gemeinsam zeigen, dass Gemeinscha­ftsschulen das Beste sind, aber nicht die Sekundarsc­hulen dissen«, fordert sie. »Eine Schlagzeil­e in der Zeitung ›Grüne gegen Freie Schulen‹ nutzt nichts«, ist der ehemalige Bundestags­abgeordnet­e Özcan Mutlu überzeugt.

»Es geht immer auch um die Frage, wer hat das Recht, welche Schule zu besuchen?«, erklärt der Neuköllner Delegierte Robin Völker. »Wenn in Berlin die U-Bahn der einzige Ort ist, wo Menschen unterschie­dlicher Herkunft und Prägung zusammenko­mmen, dann haben wir ein Problem«, so Völker weiter. Bildungspo­litik sei immer auch Machtpolit­ik. Es reiche nicht, immer nur über Qualität zu reden.

Robin Völker, Delegierte­r aus Neukölln

»Im Wedding verlässt jedes dritte Kind die Schule ohne Abschluss, damit wiederholt sich so oft die Geschichte der Eltern«, wirft Silke Gebel, Fraktionsc­hefin im Abgeordnet­enhaus, in die Debatte ein. »Das muss sich dringend ändern.«

Als einen Kampf »alter Männer gegen progressiv­e Ideen, um die grüne Wählerscha­ft nicht abzuschrec­ken, das behaupten sie jedenfalls«, erklärt Abgeordnet­enhausmitg­lied Katrin Schmidberg­er das Schauspiel auf Twitter. Dabei wollten sogar viele Grüne als Eltern ihre Kinder auf Gemeinscha­ftsschulen schicken – es gebe nur keine Plätze.

Auch Nina Stahr spricht auf dem Podium von einem »Generation­enkonflikt«. Den die Älteren nicht für sich entscheide­n können. Der Leitantrag wird ohne Änderungen in der Fassung der Antragskom­mission angenommen. Ziele dort sind unter anderem eine Stärkung der Gemeinscha­ftsschulen durch finanziell­e Anreize für diese Schulform und die Durchsetzu­ng einer verbindlic­hen Grundschul­zeit von sechs Jahren.

Keine öffentlich­e Kontrovers­e liefert sich die Partei beim zweiten Leitantrag »Grün statt grau«, mit dem Ökologie und Stadtwachs­tum unter einen Hut gebracht werden sollen. Es müsse kompakter gebaut werden, um so Freifläche­n zu erhalten.

Der Parteitag macht auch den Weg frei für den 8. März, den Frauentag, als zusätzlich­en Feiertag in der Hauptstadt. Als letzter Koalitions­partner votieren auch die Grünen nun dafür.

Wie zufrieden die Mitglieder mit dem derzeitige­n Zustand ihrer Partei sind, bekamen auch die Landeschef­s zu spüren. Nina Stahr und Werner Graf wurden mit jeweils fast 90 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt – deutlich mehr als beim Antritt 2016.

»Wenn in Berlin die U-Bahn der einzige Ort ist, wo Menschen unterschie­dlicher Herkunft und Prägung zusammenko­mmen, dann haben wir ein Problem.«

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Foto: dpa/Carsten Koall Nina Stahr und Werner Graf erhielten als Landesvors­itzende deutlich mehr Stimmen als vor zwei Jahren.

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