Ukrainischer Ausnahmezustand
Nach einer turbulenten Sitzung beschließt die Rada die Einführung des Kriegsrechts
Berlin. Nach der gewaltsamen Konfrontation zwischen russischen und ukrainischen Marineschiffen vor der Schwarzmeerhalbinsel Krim hat die Ukraine ein 30-tägiges Kriegsrecht verhängt. Das Parlament (Rada) stimmte am Montagabend mit 276 Stimmen dem Antrag von Präsident Petro Poroschenko zu. Dieser Schritt sei nötig, damit die Ukraine »unverzüglich die Verteidigung stärken kann, um im Falle einer Invasion schnell reagieren zu können«, sagte er. Eine Verlängerung des Kriegszustandes ist möglich.
Unterdessen sicherte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg der Ukraine Unterstüt- zung zu. »Russland muss begreifen, dass seine Handlungen Konsequenzen haben«, sagte er. US-Außenminister Mike Pompeo rief die russische Regierung dazu auf, die ukrainischen Schiffe zurückzugeben und die festgenommenen Besatzungsmitglieder freizulassen. Für die ersten der 23 festgenommenen ukrainischen Seeleute wurden am Dienstag zwei Monate Untersuchungshaft angeordnet.
Die Bundesregierung bemüht sich dagegen um diplomatische Vermittlung. Nachdem Außenminister Heiko Maas (SPD) bereits am Montag eine deutsch-französische Vermittlung ins Gespräch brachte, bekräftigte er ges- tern, es gelte zu verhindern, »dass aus diesem Konflikt eine noch schwerere Krise für die Sicherheit in Europa wird«. In einem Telefongespräch zwischen Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte der russische Präsident seine »ernste Sorge« angesichts der Entscheidung Kiews ausgedrückt. Er hoffe, dass Berlin die ukrainische Regierung »beeinflussen« könne, um diese von »künftigen unüberlegten Handlungen« abzuhalten. Heftige Kritik äußerte Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Der dpa sagte sie, Russland nutze die Eskalation, um die südöstliche Ukraine weiter zu destabilisieren.
Am Montagabend votierte die Rada für die Ausrufung des Kriegsrechts. Allerdings nur in zehn Regionen und für 30 Tage – statt im ganzen Land und für zwei Monate. Der Montagabend wird in die Geschichte des ukrainischen Parlaments eingehen. Nachdem die russische Marine am Sonntag vor der Straße von Kertsch drei ukrainische Militärschiffe aufgebracht hat, diskutierte die Werchowna Rada über die Einführung des Kriegsrechts. Doch die meisten Fraktionen konnten mit der Gesetzesinitiative von Präsident Petro Poroschenko erst wenig anfangen: 60 Tage Ausnahmezustand und das im ganzen Land erschienen den Abgeordneten zu viel.
Die für die Ukraine übliche Politshow mit Lautsprechern und Blockade des Rednerpultes ermöglichte einen bemerkenswerten Kompromiss, der auf die zukünftige Innenpolitik einen deutlich größeren Einfluss haben dürfte als auf den Konflikt mit Russland: Das Kriegsrecht dauert nur 30 statt 60 Tage – und wird nicht im ganzen Land, sondern in den Grenzregionen zu Russland, dem international nicht anerkannten Transnistrien sowie den Küstengebieten verhängt. Bei den zehn Regionen handelt es sich um Luhansk, Mykolajiw, Winnyzja, Sumy, Odessa, Charkiw, Tschernyhiw, Cherson, Saporischschja und Donezk.
Anlass für den Streit um die Dauer des Kriegsrechts waren in erster Linie die am 31. März anstehenden Präsidentschaftswahlen. Diese dürfen unter Bedingungen des Kriegszustandes nicht ausgetragen werden. Weil der offizielle Wahlkampf am 31. Dezember beginnt, hätte das Kriegsrecht die Wahlen beeinflusst. »Der Präsident ging auf diesen Schritt ein, um alle Spekulationen ein für allemal zu beenden. Die Wahlen werden wie geplant stattfinden«, meldete Poroschenkos Sprecher Swjatoslaw Zeholko. Der Präsident weilte lange in der Rada, beteiligte sich jedoch nicht an der Debatte – angeblich wegen der Blockadehaltung der Radikalen Partei.
Ein anderer Streitpunkt ist im Gesetzentwurf nach wie vor erhalten geblieben. Zwar haben Poroschenko und der Sicherheitsrat versprochen, die Bürgerrechte nicht einzuschrän- ken. Allerdings existiert diese Möglichkeit auch in dem Entwurf, der dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wurde. Die Regierung betont zwar, Einschränkungen würde es nur im Falle einer neuen russischen Aggression geben. Der Gesetzesentwurf benennt jedoch keine klaren Regeln, die eine Begrenzung oder Aufhebung der Bürgerrechte gestatten.
Das Vorgehen der Regierung ändert die Bedingungen vor den Wahlen. Noch vor wenigen Wochen schien es so, als würde Petro Poroschenko mit seinem Wahlspruch »Armee, Sprache, Glaube« – trotz seiner Erfolge im Kampf um die Unabhängigkeit der Ukrainisch-orthodoxe Kirche – nur wenige Bürger ansprechen. Plötzlich spricht die Gesellschaft wieder über die Armee – und obwohl kaum jemand die Ausrufung des Kriegsrechts gutheißt, ist die aktuelle Ausgangslage für Poroschenko deutlich günstiger als für seine Konkurrenten wie den Komiker Selenskyj und den Rocksänger Wakartschuk.
Zwar wären Poroschenkos niedrige Umfragewerte ein guter Anlass, die Wahlen zu verschieben. Doch nun verfügt der ukrainische Präsident über weitere Argumente. In Kiew hat man nicht damit gerechnet, dass das Kriegsrecht nur in zehn Regierungsbezirken ausgerufen wird. Die meisten Gebiete, die es in die Liste geschafft haben, gelten als eher Kiewkritisch. Selbst wenn die Bürgerrechte nicht eingeschränkt werden sollen, hat die Präsidialverwaltung durch das Kriegsrecht mehr Möglichkeiten als zuvor, Einfluss auf die Regionalverwaltungen auszuüben, damit diese vor Ort zum möglichen Wahlsieg Poroschenkos beitragen. Die Kiewer Lokalführung war von dem Abstimmungsergebnis dementsprechend wenig begeistert.
Doch was bedeutet die Einführung des Kriegsrechts für den künftigen Verlauf des militärischen Konfliktes? »Wir brauchen das Kriegsrecht, damit unsere Armee das Land besser verteidigen kann«, verkündete Außenminister Pawlo Klimkin am Montag im Parlament. Generalstabchef Wiktor Muschenko konnte allerdings weder darauf, wie das Kriegsrecht der Ukraine konkret militärisch helfen wird noch auf die Frage, wieso das Kriegsrecht jetzt ausgerufen wird und nicht im Jahr 2014, eine deutliche Antwort geben. Klar bleibt nur, dass es eine neue Welle der Mobilmachung zunächst ausbleibt.