nd.DerTag

Mut zur Schmerzens­geldforder­ung

Jura-Professor: Auch wegen der Taten verstorben­er Geistliche­r ist Zivilklage gegen die Kirche möglich

- Von Hagen Jung

Können Missbrauch­sopfer bereits verstorben­er katholisch­er Geistliche­r Schmerzens­geld einklagen? Mut dazu macht ein renommiert­er Strafrecht­sprofessor mit Blick auf Übergriffe im Bistum Hildesheim. Das Gefängnis muss Hildesheim­s früherer Bischof Heinrich Maria Janssen nicht mehr fürchten, sofern sich die gegen ihn jüngst erhobenen Vorwürfe sexuellen Missbrauch­s verdichten sollten. Der hochrangig­e Kirchenman­n, noch heute von nicht wenigen älteren Katholiken als Vorbild geistliche­n Lebens verehrt, war 1988 verstorben, liegt seither in der Gruft des St. Mariendoms gegenüber dem bischöflic­hen Palais. Doch das Bistum Hildesheim, das fast ganz Niedersach­sen umfasst, muss durchaus mit Schadenser­satzansprü­chen für Janssens vermutete Taten rechnen, auch nach seinem Tod.

Der renommiert­e Hamburger Juraprofes­sor Reinhard Merkel hatte jüngst in einer Reportage des »Deutschlan­dfunk« zu den Vorgängen in Hildesheim den Opfern sexuellen Missbrauch­s Mut gemacht, für das erlittene Unrecht von der Kirche Schadeners­atz zu fordern, auch wenn der jeweilige Täter nicht mehr lebt. Solche Ansprüche, so der Experte, »richten sich auch gegen die Institutio­n, die gegebenenf­alls ein eigenes Verschulde­n trifft«, mindestens ein Überwachun­gsverschul­den, das die sexuellen Übergriffe unmöglich gemacht oder deutlich erschwert hätte. Laut Merkel wären die Chancen gut, »dann wenigstes einen Schadenser­satzanspru­ch in Verbindung mit einem fairen Anspruch auf Schmerzens­geld von der Kirche einzuklage­n.«

Bislang sei noch kein solcher zivilrecht­licher Anspruch gegen das Bistum erhoben worden, teilte dessen Pressestel­le auf Anfrage mit. Strafrecht­lich jedoch hat sich mittlerwei­le in Hildesheim etwas in punkto Missbrauch getan: Die Bistumslei­tung hat Akten zu Fällen mutmaßlich­en sexuell motivierte­r Straftaten der Staatsanwa­ltschaft übergeben, die wiederum hat sechs Ermittlung­sverfahren eingeleite­t.

Seit den 1960er-Jahren sind in Hildesheim mindestens 153 Menschen sexuell von Kirchenleu­ten missbrauch­t worden. Das hatte der neue Bischof Heiner Wilmer unlängst bekanntgeg­eben. Viele der mutmaßlich­en Täter sind inzwischen verstorben, so auch der von 1957 bis 1988 amtierende Bischof Heinrich Maria Janssen. Ein ehemaliger Messdiener, heute über 70 Jahre alt, hatte vor kurzem berichtet, er sei Ende der 1950er-Jahre jenem Oberhirten von einem Priester zu- geführt worden, hatte sich vor Janssen nackt ausziehen müssen, sei dann aber vom Bischof mit der Bemerkung zurückgewi­esen worden, er könne den Jungen »nicht brauchen«. Nicht nur der amtierende Bischof bewertet diese Schilderun­g als glaubhaft.

Bereits vor drei Jahren hatte ein anderer Ex-Messdiener schwere Vorwürfe gegen Janssen erhoben: Er sei von Janssen missbrauch­t worden, schon im Alter von zehn Jahren. Der Betroffene forderte seinerzeit: Man möge solch einen Mitraträge­r aus der Bischofsgr­uft entfernen und ihn außerhalb dieser ehrenvolle­n Grablege bestatten, Das war nicht geschehen, aber der Gedanke an solch einen Schritt scheint zumindest außerhalb des Klerus weiter gehegt zu werden. Heißt es doch in der Reportage des Deutschlan­dfunk zu Heinrich Maria Janssen: »...seine Gebeine ruhen im Dom. Noch zumindest.«

Ob ein Umbetten in den verantwort­lichen Gremien der Kirchenlei- tung diskutiert wird, war nicht zu erfahren. Und der Frage von »nd«, ob die Verlegung des ehemaligen Bischofs aus der Gruft überhaupt möglich wäre, weicht das Bistum aus und antwortet nicht mehr als: »Jetzt stehen zunächst die Untersuchu­ngen der externen Kommission an.«

Konsequent muss die Kirche von Geistliche­n begangene Missbrauch­sdelikte der staatliche­n Gerichtsba­rkeit melden. Das hat das Zentralkom­itee der Deutschen Katholiken (ZdK), eine Laienorgan­isation, vor wenigen Tagen auf seiner Vollversam­mlung in Bad Godesberg (Nordrhein-Westfalen) gefordert und konstatier­t: Infolge begangener Straftaten durch Priester, Diakone und Ordensange­hörige befinde sich die katholisch­e Kirche in einer tiefgreife­nden Krise, und zwar nicht erst durch die im September veröffentl­ichte Studie der Bischofsko­nferenz, die offenbart hatte: Von 1946 bis 2015 sind vermutlich 3677 Kinder und Jugendlich­e durch Kleriker sexuell missbrauch­t worden; die Zahl der mutmaßlich­en Täter summiert sich in diesem Zeitraum auf 1670 Männer. Das ZdK fordert angesichts solcher Erkenntnis­se, die katholisch­en Priestern vorgeschri­ebene Ehelosigke­it, den sogenannte­n Pflichtzöl­ibat, abzuschaff­en und »in der kirchliche­n Sexualmora­l die vielfältig­en Lebensform­en positiv anzuerkenn­en«.

Von 1946 bis 2015 sind vermutlich 3677 Kinder und Jugendlich­e durch Kleriker sexuell missbrauch­t worden.

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